Interview mit einem
langjährigen Mitglied der Gemeinschaft |
Interview
mit Georg
Georg
war einer der ersten Deutschen, die sich dauerhaft in der sibirischen
Gemeinschaft angesiedelt haben. Seit 2002 lebt er zusammen mit seiner
Frau Louisa im Dorf Guljáewka mit etwa 300 Einwohnern.
Anlässlich eines Besuchs in Deutschland haben wir die Gelegenheit
genutzt und haben den "leibhaften Sibirer" nach seinen Erfahrungen
befragt, die er in der Gemeinschaft gemacht hat.
Es ging uns dabei auch darum, einen möglichst realistischen - wenn auch
subjektiven - Eindruck vom alltäglichen Leben und Arbeiten in der
Gemeinschaft zu gewinnen.
Blick über die Taiga und den Fluss Kasir oberhalb von Guljáewka im
Frühling (Foto: Walerij Bekeshin, 1997)
Zur
Person
Wie
war
dein Lebensweg, bevor du nach
Sibirien gegangen bist?
Ich habe in der Informatik-Branche gearbeitet, lange Jahre bei IBM.
Später habe ich eine eigene Firma gegründet und habe den Rundfunk- und
Fernsehanstalten in Deutschland geholfen, ihre Systeme von analog auf
digital umzustellen. Spirituell habe ich mich bei der Transzendentalen
Meditation engagiert, habe mich auch zum Meditationslehrer ausbilden
lassen. Später war ich viel in Sannyasin-Kreisen unterwegs. Ich habe
drei Kinder aus zwei Ehen.
Aus
was
für einem Elternhaus kommst du?
Christlich, evangelisch christlich, und ich war in christlichen
Jugendorganisationen, CVJM, bin auch zur Kirche gegangen, also für mich
war die Gottesfrage schon als Jugendlicher sehr aktuell. Dann habe ich
das aber aus dem Auge verloren, weil ich von der Kirche sehr frustriert
war und auch ausgetreten bin. Ich habe dann eben versucht, außerhalb
von der Kirche geistige Inhalte zu finden. Aber Jesus und Christus
waren für mich mein ganzes Leben lang interessant, und insbesondere die
Bergpredigt hat mich fasziniert. Ich fand hier den ursprünglichen
Inhalt, den Jesus auf die Welt bringen wollte. Er hat ja niemals von
Papsttum und Kirchen etwas gesagt ...
Im Garten (Foto: S.W.)
Der
Weg nach Sibirien
Wann
und
wie hast du erstmals von Vissarion
und der sibirischen Gemeinschaft erfahren?
Im Jahr 2000 ist meine damalige Frau Dieter Schaarschmidt begegnet (er
ist der Autor des Reiseberichts
1). Er hat erzählt, dass Vissarion nach Deutschland kommt,
und ich hatte schon so eine Ahnung, dass ich ihm folgen würde.
Hattest
du
denn zu dem Zeitpunkt überhaupt
schon viele Informationen?
Nein, überhaupt keine, ich hatte noch kein Bild von ihm gesehen, nichts
gelesen, nichts, gar nichts.
Aber
irgendetwas muss dich doch aufhorchen
lassen haben . . .
Ja, es war schon im Raum, dass man von ihm sagte, dass er Christus sei.
Das hat mich angezogen. Das Thema hat mich ja schon mein ganzes Leben
lang begleitet. Bereits in der Pubertät hatte ich mir vorgestellt, wie
es wohl sein würde, wenn ich Christus persönlich im Fleisch treffen
würde, und ich habe mir schon überlegt, woran ich ihn denn erkennen
würde. Das war mir in dem Moment gar nicht mehr klar, aber später habe
ich mich erinnert, dass ich als Jugendlicher solche Vorstellungen und
Gedanken hatte, dass ich in diesem Leben Christus begegnen könnte.
Was
hat
dich an Vissarion und an der
Gemeinschaft besonders angesprochen?
An Vissarion hat mich die Einfachheit angesprochen und dass er mit
allem zufrieden war, was er bekam. Er hat meines Wissens nie
irgendwelche Privilegien in Anspruch genommen. In Hamburg ist mir
aufgefallen, dass er immer alles auf sich hat zukommen lassen und nie
etwas gefordert hat. Wenn er eingeladen wird, geht er hin, aber er
nimmt alles so, wie es ist, die Unterkunft, die man ihm anbietet, das
Essen usw.
Gab
es
auch Punkte, die für dich nicht so
leicht zu akzeptieren waren?
Nein. Also was mit Vissarion selbst zu tun hat, gab es nichts, wo ich
gedacht habe: ach, das ist aber merkwürdig ...
Was
hat
dich bewogen, in die sibirische
Gemeinschaft überzusiedeln?
Also, dass es nach Sibirien gehen würde, war für mich schnell klar. Ich
habe mir gedacht: Wenn ich Christus folgen will und es keine
Hinderungsgründe gibt, also keine praktischen - und die gab es damals
nicht für mich, da war für mich eher die Frage: Warum nicht? Ich hatte
damals im Prinzip in Deutschland keine Wurzeln mehr, meine Kinder waren
erwachsen und haben an mich keine Erwartungen in irgendeiner Form
gehabt. Da habe ich zu mir gesagt: Wenn du schon einen Lehrer hast,
dann möchtest du möglichst nahe bei ihm sein, dann kriegst du die
Sachen hautnah mit und nicht nur aus zweiter oder dritter Hand. Und
auch die Möglichkeit, ihn zu sehen und ihm persönliche Fragen stellen
zu können ... es war eigentlich keine Frage, dass es für mich wichtig
ist, nahe bei ihm zu sein.
Ist
dir
dieser Entschluss leicht gefallen?
Ich habe nicht so viel überlegt. Es hat mich einfach sehr stark gezogen.
Haus mit Garten und Gewächshaus
Erwartungen
und Bedenken
Was
konntest du dir nicht vorstellen, bevor
du dort warst?
Das weiß ich nicht mehr. Ich war einfach sehr offen.
Was
hast
du an Erwartungen nach Sibirien
mitgebracht?
Ich
habe erwartet, dass ich da eine Gruppe von Menschen vorfinde, die alle
das gleiche Ziel verfolgen, aber unterschwellig habe ich wohl gedacht,
dass die ihr Ziel so verfolgen, wie ich es mir vorstelle. (Lacht
herzhaft!) Und ich musste da feststellen, dass es so viele verschiedene
Wege gibt, wobei alle das Verständnis haben, dass sie Vissarions Wort
folgen, was mich dann sehr überrascht hat - und an dem Punkt musste ich
auch umdenken. Ich habe dann aber schnell festgestellt - auch durch
verschiedene Äußerungen, die Vissarion gemacht hat - dass das, um es
mal locker zu sagen, Teil des Spiels ist. Ich meine, dass er mal gesagt
hat, dass er das so initiiert hat, dass Leute mit sehr
unterschiedlichen Charakteren zusammenkommen, um sich maximal zu
reiben. Das war mir sofort einleuchtend, und das kann ich auch heute
noch so akzeptieren.
Du
hattest
also gehofft, dort möglichst
viele gleichgesinnte Mitstreiter zu finden?!
Ja, und die habe ich im Prinzip auch gefunden, bloß die Wege sind so
unterschiedlich und die Meinungen, was Vissarion nun meint, oder was er
denkt oder was er will. Und das ist auch heute noch so.
Hattest
du
nie irgendwelche Bedenken?
Nein, Bedenken hatte ich keine.
In
der Berichterstattung über die Gemeinschaft wird praktisch immer von
einer "Sekte" gesprochen. Wolltest du denn in einer Sekte leben?
Wie die Umwelt das bezeichnet, ist mir inzwischen egal. Alle Bewegungen
außerhalb des "Mainstream" - wie auch unsere - werden wohl als eine
Bedrohung für das bestehende System empfunden. Und die Angst besteht ja
auch zu Recht. Es geht der sorglosen Gemütlichkeit an den Kragen! Da
darf man sich aber nicht irritieren lassen. Da muss man eben Flagge
zeigen!
Sommerküche
Die
Übersiedelung
Wie
oft
und wie lange hast du die
Gemeinschaft besucht, bevor du beschlossen hast, ganz dort zu leben?
Den Entschluss, dort zu leben, hatte ich sofort gefasst, als ich
Vissarion zum ersten Mal im Oktober 2000 begegnet bin. Ich hatte auch
gleich ein persönliches Gespräch mit ihm, wo ich praktische Aspekte
eines Umzugs nach Sibirien angesprochen habe. Ich war dann im Sommer
2001 für drei Wochen und auch 2002 nochmals für fünf Wochen in
Sibirien. Danach haben wir uns für ein Haus entschieden, in das wir im
Dezember 2002 eingezogen sind.
Welche
persönlichen Ziele hast du mit deiner
Übersiedlung in die Gemeinschaft verbunden?
Es war damals schon im Gespräch, dass in Sibirien die Wiege für die
neue Menschheit sein würde und dass es darum gehe, sozusagen die
materiellen Grundlagen zu schaffen für eine neue Welt, so dass unsere
Kinder einen Platz haben, wo sie leben können, wo sie arbeiten können.
Und meine Frau hatte diesen Punkt eigentlich noch mehr im Auge als ich.
Die Idee, dort ganz konkret eine Werkstatt aufzubauen, kam von ihr.
Aus dem Gespräch mit Vissarion ging auch hervor, dass man es auf einem
Gebiet zur Meisterschaft bringen solle. Dann hat es sich so ergeben,
dass ich in unserer Umgebung eine Weberin kannte, die Lehrerin an einer
Waldorfschule war, und die habe ich gefragt, ob ich bei ihr eine
Ausbildung machen kann, und bei ihr habe ich mit zwei anderen Frauen
einen Webkurs gemacht. Louisa fand das auch gut und schaute sich gleich
um, wo sie Webstühle bekommen konnte. Und dadurch ist unsere Weberei
entstanden. Es ist für mich auch heute noch das wichtigste Ziel, dass
die Leute, die jetzt in Sibirien sind, praktisch die materiellen
Grundlagen schaffen für eine neue Welt, die auf Handwerk basiert.
Werkstätten aufzubauen, finde ich immer noch ein wichtiges Anliegen,
und ich wundere mich, wie wenige Leute das dort machen. Es ist für mich
fast unbegreiflich.
War
ein
Teil der Motivation auch, in deiner
persönlichen Entwicklung weiterzukommen?
Ja, schon. Ich hatte auch das Gefühl, wie gesagt durch die räumliche
Nähe, dass man im Energiefeld des Lehrers ist und auch im Energiefeld
von Leuten, die das gleiche Ziel verfolgen, die einen auch immer wieder
in die Richtung mitreißen. Dass man einfach ständig von diesem
Gedankengut umgeben ist: Wir wollen hier die Grundlage schaffen für
eine neue Menschheit.
Welche
Eindrücke hast du dann tatsächlich
vorgefunden?
Für mich war überraschend, als ich nach Sibirien kam, die
Vielfältigkeit der Leute und die Herausforderungen, die damit verbunden
sind. Und auch, dass von Ökologie nach westlichem Verständnissehr wenig
zu spüren war.
Was
ist
dir diesbezüglich besonders
aufgefallen?
Hauptsächlich die Baumaterialien. Das Dach von fast jedem Haus war mit
asbesthaltigem Material bedeckt, die nennen das "Schiefer", aber bei
uns sagt man dazu "Eternit-Platten". Also gewellte Eternit-Platten
waren die Standard-Hausbedeckung über Jahrzehnte. Dann das Abdichten
mit Glaswolle und Steinwolle, was ja hauptsächlich für die Atemwege
nicht gesund ist. Auch den Umgang mit Gülle fand ich problematisch.
Nachtrag November 2016:
Die
Eternit-Dächer gibt es kaum noch. Baumärkte schießen seit einigen
Jahren wie Pilze aus dem Boden. Dort gibt es (fast) alles, was man in
Deutschland auch kaufen kann. Der neuste Trend: Dächer und Wände mit
gewellten Metallplatten zukleistern. Auch nicht besonders ökologisch!
Wie
hast
du die ersten Monate dort erlebt?
Wir kamen ja im Dezember an, das Haus war zwar für uns vorbereitet,
aber wir hatten ja nichts im Kühlschrank, hätte ich jetzt beinahe
gesagt, oder im Keller. Wir waren also auf Hilfe angewiesen, und die
Leute im Dorf haben uns geholfen, die haben uns über den Winter
gebracht. Wir sind dann zum Bürgermeister gegangen und haben uns mit
ihm beraten, und er hat uns empfohlen, verschiedene Sachen zu kaufen,
also Getreide, Reis, Buchweizen, und wir haben auch irgendwo Möhren
gekauft. Brot usw. konnte man ja im Laden kaufen, aber was man so
selbst anbaut, Kohl usw. das haben wir z.T. gekauft, z.T. wurde es uns
geschenkt. Wir hatten einen guten Kontakt zum damaligen Bürgermeister,
und wenn wir ein Problem hatten, sind wir zu ihm gegangen und so haben
wir jedes Problem gelöst. Wir hatten niemals den Eindruck, dass wir ein
Problem nicht lösen könnten. Wir mussten nur zum Bürgermeister gehen
und wussten, uns wird geholfen - irgendwie.
Terrasse
Und
da kam
auch nie so ein Gefühl auf, von
wegen: oh je, was sind wir lästig?
Nein, überhaupt nicht. Weil jeder, der da neu kommt, der wird
eigentlich als Verstärkung betrachtet. Die Leute sind froh, wenn Leute
kommen. Und da wir ja praktisch eine Werkstatt mitgebracht hatten,
waren wir auch nicht in der Position, dass wir als dumme Deutsche oder
Bittsteller dastanden, sondern wir waren schon jemand, von denen man
dachte, die werden am Aufbau des Dorfes mitarbeiten.
Wieso
hat
es euch gerade nach Guljáewka
verschlagen? Habt ihr euch auch in den anderen Dörfern der Gemeinschaft
umgesehen?
Wir sind in Guljáewka gelandet, weil unser Lehrer damals die Deutschen
gerne in der sogenannten Zone haben wollte, um ihnen bessere
Unterstützung zukommen zu lassen. Als uns ein erschwingliches Häuschen
in Guljáewka angeboten wurde, haben wir das dann genommen. Wir haben
uns auch Häuser in Shárowsk angesehen, aber entweder war es zu teuer
oder es passte irgendwas nicht.
Wie
viele
Mitglieder der Gemeinschaft kennt
ihr denn?
Hauptsächlich die aus unserem Dorf - ungefähr 60 Erwachsene und 30
Kinder. Dann die wenigen Deutschen in Petropáwlowka und Shárowsk. Und
natürlich noch einige andere Freunde aus anderen Dörfern, die wir zum
Beispiel über Kontakte in unserer Werkstatt kennen.
Nachtrag
November 2016:
Inzwischen
etwa 100 Erwachsene und 40 Kinder
Praktische
Aspekte
Hast
du
vorher versucht, dir
Russisch-Kenntnisse anzueignen?
Ein wenig - zu wenig. Ich habe einen Volkshochschulkurs begonnen. Aber
mangels Nachfrage wurde der nicht weitergeführt.
Wie
wichtig ist es, dass man die Sprache
beherrscht?
Sehr wichtig! Es wird ausschließlich Russisch gesprochen. Und wenn man
an den Versammlungen nicht konstruktiv teilnehmen kann, versäumt man
das Wesentliche.
Gartenidylle
Haus
und Grundbesitz
Habt
ihr
euer Haus gekauft? Können
"Ausländer" in Russland Grund und Boden erwerben?
Ja, wir haben es gekauft. Die Gesetze und Verordnungen ändern sich
allerdings ständig. Aber ich denke, es wird eher einfacher für Deutsche
und andere Ausländer.
Was
kostet
denn dort ein Haus?
Für ein einigermaßen anständiges Haus muss man mit 10 bis 15.000 Euro
rechnen. Die Preise sind in den letzten Jahren drastisch gestiegen!
Nachtrag
November 2016:
Es
wird heutzutage anspruchsvoller gebaut. Heute muss man eher mit
30 - 40.000 Euro kalkulieren.
Ist
da das
Grundstück schon mit drin?
Ja, das ist mit drin. Die Grundstücke sind in aller Regel so groß, dass
Selbstversorgung aus dem Garten möglich ist, also meistens 2.000 qm
oder mehr.
Nachtrag November 2016:
Grundstücke
werden heutzutage extra gehandelt.
Zur Zeit mit ca. 500 Euro pro Ar (10 x 10 Meter)
Ist
es
schwierig, ein Haus zu finden? Wie
angespannt ist der Immobilienmarkt?
Es ist nicht so, dass man einfach kommt und ein Haus kaufen
kann.
Und die Preise dürfen nicht beliebig hoch sein. In den vier
Hauptdörfern (Petropáwlowka, Tscheremschánka, Guljáewka und Shárowsk)
ist es schon ziemlich eng. Aber sonst gibt es meines Wissens noch viel
freies Land.
Warum
wollen denn die meisten in den vier
Hauptdörfern wohnen?
Da ist man einfach näher am Geschehen. Tjuchtjáta zählt im übrigen auch
zum engeren Kreis, weil dort die Gemeinschaft sehr aktiv ist.
Wie
groß
war denn das Haus, in das ihr
zuerst eingezogen seid?
Das Haus war mit 4 x 6 Metern beheizbarer Fläche sehr klein. Es war
eine Wremjanka - also eine Art bessere Bauhütte. Die Russen planen
solche "Zeithäuser" allerdings für einen längeren Zeitraum - für
mindestens 2 Jahre. Das war unser Lebensraum, der alles beinhaltete:
Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer ...
Bei
der
Aufzählung habe ich jetzt nur noch
Toilette und Badezimmer vermisst.
Das Waschhaus (russisch: Banja) ist immer separat - wegen der
Feuchtigkeit. Nicht alle Häuser haben eine Banja. Dann lädt der
Besitzer seine Nachbarn ein. Das ist normal. Die Gäste bringen dann
Brennholz und vielleicht auch Wasser mit. Samstag ist immer Banja-Tag,
ansonsten nach Bedarf. Dazu heizt man den Ofen an, der auch das
Waschwasser in einem Kessel erhitzt. Im Winter dauert es mindestens 2
Stunden, bis Raum und Wasser heiß sind. Dann mischt man das heiße mit
kaltem Wasser in einem Kübel und schüttet sich das Wasser über den
Kopf. Ganz einfach!
Gibt
es
auch Haushalte mit Waschmaschine und
Geschirrspüler?
Waschmaschinen definitiv ja! Geschirrspüler habe ich noch nicht
gesehen. Wir selbst haben keine Waschmaschine, haben aber aus
Deutschland einen guten alten Waschkessel mitgebracht. Manchmal hätte
Louisa auch gern eine Waschmaschine, aber nicht wirklich; das kommt uns
nicht mehr zeitgemäß vor.
Kann
so
ein enges Zusammenwohnen, wo es
wenig Ausweichmöglichkeiten gibt, nicht auch belastend sein?
Wir haben auch gedacht, das muss irgendwann Probleme geben auf so engem
Raum. Manchmal knirscht es ein wenig, aber als belastend haben wir es
noch nicht empfunden. Man hat ja Auslauf - Garten, Fluss, Wald, ... und
auch die Freunde, an die man sich wenden kann. Das ist nicht so wie in
Deutschland, wo man erstmal irgendwohin fahren muss, um zu sich zu
kommen oder Freunde zu treffen.
Haus in der Taiga
(Foto: Simkin)
Selbstversorgung
Die
Gemeinschaft ist ja auf Selbstversorgung
aus dem Garten angelegt. Hattest du dich zuvor schon mit Gartenbau
beschäftigt?
Mein Großvater war Bauer, mein Vater war Gärtnermeister, der auch
Ackerbau betrieben hat. Da habe ich zwangsläufig was mitbekommen. Aber
intensive Kenntnisse habe ich mir leider nicht angeeignet. Da hätte ich
lieber in die Fußstapfen meiner Vorfahren treten sollen.
Hattet
ihr
zu Anfang Hilfe, was den Garten
angeht?
Für den Garten ist Louisa verantwortlich. Ich mache die schwereren
Arbeiten, soweit es mir noch möglich ist. Ja, sie hat anfangs Hilfe
bekommen. Jetzt hat sie alles im Griff.
Haben
eure
ersten Ernten schon ausgereicht,
um über den Winter zu kommen?
Wir sind ja mitten im Winter gekommen. Also haben wir erst im Frühjahr
angefangen, selbst anzubauen. Bis dahin haben wir Getreide und auch
Gemüse gekauft. Wir haben aber auch viel Kartoffeln und Gemüse von den
Guljáewkanern geschenkt bekommen.
Reicht
die
doch relativ kurze
Vegetationsperiode im Sommer, um ausreichend Nahrungsmittel für das
ganze Jahr anzubauen?
Die Sommer sind zwar kurz, aber dafür sehr warm. Da sprießt alles sehr
schnell. Das reicht aus, um weitgehend alles anzubauen, was auch in
Mitteleuropa angebaut wird.
Habt
ihr auch Gewächshäuser?
Die meisten haben Gewächshäuser - für Tomaten, Gurken, Paprika,
Auberginen und so weiter. Früher nur mit Plastikfolie, heutzutage dank
der neuen Baumärkte auch oft mit doppelschichtigen halbdurchsichtigen
Kunststoffplatten.
Wie
wird das Gemüse für den Winter gelagert?
Hier hat man in der Regel einen Außenkeller für Kartoffeln, Rüben aller
Art, Kohl und Eingemachtes. Der Keller muss mindestens 2 Meter in den
Erdboden ragen, damit die Erdwärme die Temperatur im Keller auch bei
starkem Frost über Null hält. Außerdem hat man noch einen
Unterbodenkeller im Haus, in dem u.a. die Kartoffeln zur Aussaat im
Frühjahr vorkeimen, weil es da wärmer ist als im Außenkeller.
Welche
Nahrungsmittel kauft ihr zu?
Hauptsächlich Öle und Fette, Käse wer mag, und Brot, wer es nicht
selber bäckt. Auch Obst und Säfte, wenn es einen gelüstet.
Neuerdings produzieren wir aber selbst Öl - mit einer Ölpresse, die wir
kürzlich aus Deutschland mitgebracht haben.
Kohlpflanzen im Garten
Integration
in die Gemeinschaft
Was
habt
ihr unternommen, um Anschluss an
die Gemeinschaft zu finden?
Das ist im Prinzip völlig problemlos, weil die Leute im Grunde genommen
froh sind, wenn neue Leute kommen und sehr offen sind. Du bist
eigentlich sofort drin, kann man sagen. Das ist überhaupt kein Problem,
die Leute holen dich rein. Du wirst da nicht als Fremder betrachtet.
Ihr
wurdet
also z.B. von den anderen
eingeladen usw.?
Die privaten Verhältnisse sind dort nicht so intensiv. Das
Zusammenleben spielt sich mehr in den Versammlungen ab. Privat treffen
sich die Leute nicht so oft, weil alle immer sehr viel zu tun haben,
die meisten haben Kinder, und die Abende sind weniger für Geselligkeit
oder nur mal, wenn einer z.B. Geburtstag hat. Aber normalerweise sind
die Familien abends für sich zuhause.
Wie
habt
ihr euch in die Gemeinschaft
eingebracht?
Ich hatte z.B. auf dem Mittelaltermarkt in Goslar so schöne Volkstänze
gesehen und habe dann von den Leuten die Musik, Noten und
Tanz-Anleitungen gekauft und mitgebracht, und damit habe ich dann in
unserem Dorf das Volkstanzen initiiert. Ich habe zum Glück jemanden
gefunden, der ein Faible dafür hatte und auch ein guter Tänzer ist. Und
weil ich damals noch sehr große Schwierigkeiten mit der russischen
Sprache hatte, habe ich ihm dann privat die Tänze erklärt, also
sozusagen das Buch übersetzt, und er hat sie dann mit den Leuten
eingeübt.
Und auch den Kirchenchor habe ich mit initiiert. Also ich habe den zu
Anfang geleitet, zusammen mit jemandem, der Gitarre spielen konnte, und
damit bin ich natürlich mit den Leuten in Kontakt gekommen. Und das hat
im Laufe der Jahre auch zu wirklichen Veränderungen in unserem
Dorfleben geführt.
Am Anfang war z.B. die sonntägliche Liturgie, die ja hauptsächlich aus
Singen besteht, eine ziemlich maue Veranstaltung, zu der vielleicht
5-15 Leute erschienen. Viele, die gut singen konnten, gingen auch gar
nicht in die Liturgie, weil sie das nicht so attraktiv fanden. Seit
etwa 2004 aber hat sich der Chor soweit entwickelt, dass er jetzt die
tragende Kraft ist, wir haben die Liturgie auch in ein größeres Gebäude
verlegt, und jetzt kommen so ca. 80 Leute; und da ist jetzt
richtig Power drin. Und daran war ich nicht ganz unbeteiligt.
Erfährst
du auch Anerkennung dafür?
Ja, auf jeden Fall. Also im Chor sind wir nur drei Männer, zwei Tenöre
und ich als Bass, und wenn ich nicht da bin, dann fehlt schon was. Und
beim Volkstanz freut man sich auch, wenn ich komme. Das ist auch der
Ort, wo ich richtig aus mir herauskomme und wo wir eigentlich den
ganzen Abend nur lachen, sowohl im Chor als auch beim Tanzen, und das
ist so ein richtiges Kontrastprogramm zu den z.T. sehr langatmigen
Versammlungen. Wir fühlen uns alle auch vom Herzen so verbunden, wir
lieben uns alle einfach. Wir brauchen uns auch nicht viel zu erzählen.
Wir treffen uns gerne, wir tanzen zusammen, wir singen zusammen - und
das verbindet.
Nachtrag November 2016:
Inzwischen
sind 7 Männer im Chor. Und der Chor
wird von einem deutschen Profi-Chorleiter geführt.
Hast
du
das Gefühl, dass du oder ihr die
Gemeinschaft bereichern könnt?
Wohl keiner ist zufällig hier. Es gibt bestimmt jemanden, der es schwer
mit dir hat. Und für den bist du dann wichtig. (Schmunzelt.)
Dorfidylle mit Pferden
Das
Klima
Ist
das
Klima eine Herausforderung?
Ja, das kann man schon sagen, aber insgesamt ist es nicht so schlimm,
wie viele denken. Wir sind halt diese Extreme nicht so gewöhnt, im
Sommer ziemlich heiß, im Winter ziemlich kalt. Hier in Deutschland ist
das ja mehr so ein Mischmasch, jedenfalls sind die Extreme nicht so
groß, auch nicht die Extreme von einem Tag auf den anderen oder von Tag
und Nacht. Das ist in dem Kontinentalklima von Sibirien eben anders, es
kann von Tag zu Nacht sehr hohe Temperaturunterschiede geben und auch
von Sommer zu Winter. Die trockene Luft, die dort ist, mildert
natürlich sowohl die Hitze als auch die Kälte.
In der Kernzeit des Winters, also Januar und Februar, da friert einem
dann schon oft die Nase zu, wenn man rausgeht. Im Winter ist draußen
meist Bautätigkeit. Im Sommer werden die Fundamente gelegt und es muss
viel im Garten gemacht werden, darum nützt man den Winter, um Häuser zu
bauen. Und wer damit beschäftigt ist, der ist natürlich der Witterung
ausgesetzt. Aber das sind zumeist junge kräftige Kerle, ich habe noch
nie im Winter so richtig gearbeitet, in dem Sinne.
Aber
um
aufs Klo zu gehen, muss man schon
mal raus in die Kälte?!
Ja, aber das ist nicht so schlimm. So ein Klogang von sagen wir maximal
fünf Minuten ist gut zu überstehen, dafür bringt man genug Wärme mit,
das Frieren beginnt erst nach ungefähr fünf Minuten. Und im Winter ist
es so, dass die meisten Leute ein Stubenklo haben, wo man drauf sitzen
kann und mit Deckel drauf, das dann morgens geleert wird.
Wird
euch
der Winter auch manchmal lang?
Ja, ja schon. Irgendwann sagen wir schon, jetzt wäre es schön, wenn es
mal wieder richtig warm wäre. Objektiv gesehen ist der Winter schon
lang, man kann sagen, zwei Monate länger als in Deutschland. Und zwei
Monate sind schon eine ganz schön lange Zeit. Seltsamerweise hat es uns
zu Anfang weniger ausgemacht. Früher war so viel anderes und alles war
so neu, da ist uns das nicht so aufgefallen.
Ist
denn der Klimawandel in Sibirien schon
spürbar?
Die Einheimischen meinen, dass es ständig wärmer wird.
Auf der Veranda
Energie
Wie
viel
Holz verbraucht ihr so?
Wir verheizen ungefähr 10 bis 15 Kubikmeter pro Jahr.
In
den
Häusern ist es im Winter
wahrscheinlich überhitzt!?
Bei Russen ja, bei Deutschen nicht. (Lacht.) Die Russen haben ein
höheres Wärmebedürfnis als wir. Wenn die Russen zu uns kommen, dann
sagen die immer, hier wohnen Deutsche, weil es da für die kalt ist.
Also was für uns eine warme Temperatur ist, ich sage mal so 18-20 Grad,
das ist für die Russen kalt. Der Körper gewöhnt sich auch an die Kälte
und 18 Grad sind dann schon warm.
Wir heizen ja mit Holz, und wir machen morgens den Ofen einmal
knallheiß und lassen ihn dann ausbrennen und heizen abends nochmals
ein. Man sagt, dass die Temperatur nachts nicht unter 12 Grad absinken
soll. Und das ist bei uns auch der Fall und dann kann man morgens ohne
groß zu frieren den Ofen wieder anheizen, und so kommt man dann immer
gut über die Runden.
Es gibt da verschiedene Techniken, die Russen schieben oft den ganzen
Tag nach.
Wie
kommt
man an das Holz, und gibt es auf
absehbare Zeit genug davon?
Der Wald ist größtenteils in Staatsbesitz. Man kann aber auch Wald
privat kaufen oder pachten. Es gäbe in den Wäldern natürlich
ausreichend Holz, wenn es ausschließlich der näheren Umgebung zugute
käme. Aber die Wälder um unsere Dörfer herum werden von Holzhändlern
ziemlich rigoros geplündert. Sie erwerben Einschlag-Konzessionen vom
Staat, und täglich fahren 10-15 Lastwagen schwer beladen mit
Baumstämmen durch unser Dorf. Und das qualitativ beste Holz geht nach
China.
Für die Haushalte des Dorfes gibt es ein Kontingent pro Jahr, das vom
staatlichen Förster ausgewählt und markiert wird und das man preiswert
erwerben kann. Das Fällen und den Transport organisieren wir im Dorf
selbst - entweder mit Lastwagen oder mit Pferden.
Wird
auch
mit anderen Materialien geheizt?
Manchmal wird auch mit Kohle geheizt, aber das ist eher bei großen
Gebäuden der Fall, wie der Schule in Tscheremschánka, da scheint das
günstiger zu sein.
Es gibt auch von alters her zentralheizungsartige Systeme in einem
bestimmten Typ von Häusern, die früher mal für Kolchosbauern errichtet
wurden.
Morgenstimmung
Strom
Wie
sieht
es mit der Stromversorgung aus?
In den meisten Dörfern gibt es Strom - außer in Shárowsk und der
"Sonnenstadt". Aber das Netz ist zunehmend überlastet, die Masten
brüchig, so dass es des öfteren zu Stromausfällen kommt. Es kommt auch
öfter zu starken Schwankungen bei der Stromspannung, und manchmal
werden dadurch empfindliche Geräte beschädigt. Man kann dafür jedoch
einen Spannungsstabilisator anschaffen, der hält die Spannung dann
ziemlich konstant.
Wir bereiten uns aber darauf vor, notfalls auch ohne Strom auszukommen.
Das würde auch gehen. Ich habe für unser Haus eine kleine Solaranlage
installiert, damit wir im Notfall in den langen Winternächten
wenigstens mit Licht versorgt sind - auch um in der Werkstatt arbeiten
zu können.
Wasser
Wie
ist
das denn mit dem Wasser? Wo bekommt
ihr das her?
Vor unserer Haustüre gibt es eine Handpumpe, die natürlich auch im
Winter funktioniert. Der Grundwasserspiegel liegt ja weit unter der
Frostgrenze, und nach dem Pumpen sinkt das Wasser in der Pumpe wieder
auf Grundwasserpegel ab, so dass das Wasser in der Pumpe nicht
gefriert. Trinkwasser holen wir sogar lieber aus dem Fluss. Der ist
noch sauberer als das Grundwasser. In manchen Dörfern gibt es auch
öffentliche Brunnen, wo man sich mit Seilwinde und Eimer Wasser holen
kann.
Gibt
es
auch Häuser mit fließendem Wasser?
In unseren Dörfern nicht, soviel ich weiß. Es gibt aber einige wenige
Häuser, die hochgelegene Wassertanks haben und dann durch das Gefälle
quasi fließendes Wasser haben. Das Wasser wird mit einer Elektropumpe
hoch gepumpt.
Nachtrag November 2016:
Heutzutage
gibt es schon viele Häuser mit fließend Wasser - über eine Pumpe mit
Druckregulierung. Auch Durchlauferhitzer sind keine Seltenheit mehr
Kommunikation
Welche
Kommunikationsmöglichkeiten stehen
euch dort zur Verfügung? Habt ihr Telefon oder Zugang zum Internet?
In unserem Dorf gibt es kein Festnetz, wie in den meisten anderen
Dörfern auch nicht. Seit etwa 2008 (?) gibt es aber ein Mobilfunknetz,
was das Leben völlig verändert hat. Speziell für uns Deutsche ist das
sehr erleichternd, weil wir früher die 5 km zur nächsten Poststelle
gehen mussten, wo es nur eine
Telefonleitung für eine Bevölkerung von einigen hundert Leuten gab. Man
musste das Gespräch anmelden - ca. 20 Min. warten - dann womöglich kein
Anschluss, Teilnehmer nicht zuhause oder besetzt - am nächsten Tag die
gleiche Zeremonie nochmal ... und das alles in einem großen Raum, so
dass alle zuhören konnten. Jetzt schreibt man mal kurz 'ne SMS, und von
Deutschland aus kann man uns billig erreichen, für etwa 5 Cent pro
Minute.
Internet geht ebenfalls über Modem, ist aber entsprechend langsam.
Haus mit Satellitenschüssel
Wenn
du E-Mail sagst, hast du ja anscheinend
auch einen Computer. Wie verbreitet sind denn Computer in der Taiga
schon?
Nur die Freaks haben Computer. Bei uns im Dorf gibt es etwa 6,
vielleicht 8 Computer.
Nachtrag
November 2016:
Da
hat sich gewaltig etwas verändert! Ich schätze, in mindestens der
Hälfte der Haushalte steht ein Computer mit Internetanschluss. Der
neuste Trend: Man trifft sich auf Facebook. Auch der Lehrer hat eine
eigene Homepage, auf der Er das Letzte Testament fortschreibt; und Er
ist auch in Facebook vertreten.
Wie
steht es mit dem Fernsehempfang? Wie
viele Stationen könnt ihr empfangen?
Mit herkömmlicher Antenne kriegt man nur ein Programm. Ansonsten muss
man sich 'ne Schüssel leisten. Wir selbst
haben keinen Fernseher.
Ich
habe gehört, dass innerhalb der Gemeinschaft eine Zeitung herausgegeben
wird und dass es sogar eine eigene Zeitung für Frauen gibt.
Ja, die "Schule des Lebens" veröffentlicht (leider nur auf Russisch!)
sowohl die neuesten Texte von Vadim, sobald sie redigiert sind, als
auch andere global interessierende Themen der Gemeinschaft, u.a. auch
viele Interviews. Es gab mal 2009 eine Serie von Interviews mit in der
Gemeinschaft lebenden Ausländern. Da waren dann die Deutschen natürlich
auch dabei.
Hausfront
Kleine
Widrigkeiten
Wie
übel
ist es mit der gelegentlich
beschriebenen Insektenplage?
Anfangs ist es im Juni/Juli nervig. Wenn man aber länger hier ist,
beruhigt sich das meistens. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht lieben
die kleinen Viecher die Abwechslung des mitteleuropäischen Blutes.
Auf
Bildern sieht man aber schon öfter Leute mit einem Moskitonetz über dem
Kopf, und es soll nach den Moskitos auch ganz fiese Bremsen geben und
noch anderes Getier.
Es gibt die üblichen Stechmücken, die Bremsen, und dann diese kleinen
Viecher, die sich in die Haut einfressen. So ein Netz wird
hauptsächlich benötigt, wenn man tief in die sumpfige Taiga zum
Beerensammeln geht.
In
einem
Bericht von ABC News hieß es, dass
ein Großteil der Bewohner mit Borreliose infiziert sein soll.
Papperlapapp!
Ärztliche
Versorgung
Wie
steht
es um die ärztliche Versorgung in
der Gemeinschaft?
In Petropáwlowka, Tscheremschánka und Guljáewka gibt es Zahnärzte mit
Geräten auf dem neuesten technischen Niveau. Zahnersatz ist kein
Problem - mit allen Materialien, die es auch in Europa gibt.
Wir haben praktische Ärzte aller Couleur in unseren Reihen - auch vom
Staat legalisierte. Schulmediziner, Heilpraktiker, Kräuterkundige,
Physiotherapeuten, Seher, … alles da!
Und wenn einer ins Krankenhaus möchte oder muss - das nächste ist in
Kurágino, etwa 2 Autostunden entfernt.
Wenn man den Pass für Ausländer hat (Aussicht auf Staatsbürgerschaft),
bekommt man auch so eine Art Krankenversicherungsschein, womit die
Grundversorgung gewährleistet ist.
Infrastruktur
Gibt
es
einen öffentlichen Nahverkehr?
Zwischen der Kreisstadt Kurágino und unseren Dörfern verkehren zur Zeit
täglich 4 Busse in beide Richtungen; zwei davon von und nach Guljáewka,
zwei nur von und bis Tscheremschánka. Kurágino wiederum ist ans
Eisenbahnnetz angeschlossen. Es liegt an der Strecke
Krasnojársk-Abakán, die durch das Sajan-Gebirge führt. Sehr malerisch!
Es gibt neuerdings auch Nachtbusse von Kurágino direkt nach Krasnojársk
zum Flughafen, so dass man abends in den Bus einsteigt, morgens in den
Flieger. Und via Moskau oder St. Petersburg ist man am nächsten Mittag
oder Nachmittag schon in Deutschland.
Nachtrag
November 2016:
Inzwischen 5 Busse
täglich zwischen Guljaewka
und Kuragino, und weitere 2 Busse von Tscheremschanka.
Nach
Krasnojarsk fährt man nur noch sehr selten, da ab Abakan seit etwa 2010
ebenfalls Flüge günstig angeboten werden, und zwar von den
Fluggesellschaften Aeroflot und S7. Ankunft und Abflug in
Abakan
jeweils morgens.
Wie
mühsam ist die Beschaffung von Dingen,
die über den alltäglichen Bedarf hinausgehen?
In Abakan (etwa 3 Autostunden entfernt) bekommt man das meiste, in
Krasnojársk (7 Autostunden oder 10 Stunden mit Zug oder Bus entfernt)
fast alles, in Moskau wirklich alles, was man in Europa kaufen kann.
Baumärkte z.B. schießen aus dem Boden wie Pilze. Kaum ein Unterschied
zu Europa. In Kurágino allerdings noch sehr eingeschränkt.
Im Glockenturm
Kulturelle
Aktivitäten
Was
läuft
bei euch so im Winter?
Also, was mehr stattfindet im Winter sind Feierlichkeiten und Feste,
besonders um die Weihnachtszeit herum. Dann kommt mal jemand aus einem
anderen Dorf und gibt ein Konzert, es gibt ja viele Künstler aus allen
Richtungen. Oder es kommt eine Tanzgruppe aus einem anderen Dorf. In
Tscheremschánka ist ja ein recht großer Saal, und da finden oft relativ
anspruchsvolle Veranstaltungen statt.
Und
das
vermag euch dann aus Guljáewka bis
nach Tscheremschánka zu locken!?
Ja, also zumindest diejenigen, die daran interessiert sind.
Irgendjemand hat dann ein Auto, und der karrt uns dann da hin. Also
kürzlich war da z.B. eine Frau aus Tscheremschánka, die hat so ein
besonderes Faible für deutsche Komponisten, und die hat über zwei
Stunden Mozart, Beethoven und Bach präsentiert, das war also jetzt
nicht ein Konzert, sondern z.T. mit Filmausschnitten z.B. aus Leipzig,
wo mal ein Bachfestival war, wo die Leute mitgesungen haben. Und ein
Spielfilm über das Leben von Beethoven mit der Ode an die Freude.
Natürlich auch mit Musikbeispielen. Und sie hat auch viel erzählt.
Also, das war ein richtig anspruchsvoller künstlerischer Abend. Aber
wir haben auch viele Leute, die so richtig gut singen können, Opern
z.B. oder so bardenmäßig. Das kulturelle Leben ist im Winter schon
angeregter.
D.h.
im Sommer geht es hauptsächlich um den
Garten etc. Aber da findet doch auch das große Sommerfest statt am 18.
August.
Ja, um den 18. August herum fällt eine große Schar von Gästen in unser
heimeliges Ländchen ein. Da ist mal richtig was los, viele Konzerte
aller Art, Tanzen sowieso, Ausstellungen der Handwerker - und wie immer
die Ansprache Vissarions am Abend. Da kommen auch viele Neugierige, die
eigentlich mit Vissarion nichts am Hut haben. Auch Politiker des
Kreises und des Bezirks Krasnojársk. Besonders die Kulturdezernenten
der Regierung haben ein sehr wohlwollendes Auge auf unsere
Gemeinschaft. Man sagt, das sei die zweite kulturelle Revolution in
Sibirien nach den Dekabristen (Die Dekabristen - deutsch Dezembristen -
waren adlige Revolutionäre, die im Dezember 1825 den Eid auf den Zaren
Nikolaus I. verweigerten. Sie wurden schließlich nach Sibirien verbannt
und haben maßgeblich die agrare und kulturelle Landschaft Sibiriens
gestaltet.)
Nachtrag
November 2016:
Das Fest am 18. August ist ruhiger geworden,
weniger Rummel, weniger Besuche von außerhalb - eben besinnlicher.
Die Sängerin Swetlana Wladimirskaja
Alltag
Wie
sieht
ein durchschnittlicher Tagesablauf
bei dir bzw. bei euch aus?
Der Tag beginnt morgens mit einer Arbeitsbesprechung.
An den gemeinschaftlichen Arbeiten nehme ich als Rentner nur teil,
soweit es meine Kräfte erlauben. Ich betrachte es als meine vorwiegende
Aufgabe, unsere Werkstatt in Gang zu halten, Louisa dabei zur Seite zu
stehen und die Räume und alles drum herum so in Ordnung zu halten, dass
der Zustand immer mehr verbessert wird und dass er langfristig stabil
ist. Und dieser Vorgang ist noch nicht abgeschlossen.
Abends sind dann oft wieder Versammlungen - oder Chor oder Tanzen. Ein-
bis zweimal die Woche sind Wirtschaftsversammlungen, auch
Männerversammlungen. Die Männerversammlung ist eigentlich die, wo am
meisten an praktischen Dingen entschieden wird, wo auch über die
gemeinschaftliche Arbeit entschieden wird.
Nachtrag
November 2016:
In den letzten
Jahren habe ich für die Gemeinschaft vorwiegend Holzarbeiten
gemacht - Regale, Altäre ..
Und ich war der Ölpresser des Dorfes. Leider ist die Ölpresse mit
seinem Eigentümer in die Sonnenstadt abgewandert..
Heißt
das, wenn du voll arbeitsfähig wärest, würdest du für gewisse
gemeinschaftliche Arbeiten eingeteilt werden?
Ja. Das wird in jedem Dorf individuell vereinbart. Es wird ein
Richtwert festgelegt, wie viele Stunden in der Woche oder so. Wenn man
als Meister in der eigenen Werkstatt arbeitet, ist das wieder etwas
anderes. Aber wenn man jemand ist, der keine Verantwortung hat für
irgendetwas, dann steht man in der Regel 4-8 Stunden pro Tag für eine
gemeinschaftliche Arbeit zur Verfügung, das kommt darauf an und wird
auch individuell gehandhabt.
Auch Frauen, die einen Haushalt zu versorgen haben, also Mann und
Kinder, die brauchen im Prinzip auch nicht für die Gemeinschaft zu
arbeiten oder nur, soweit es zumutbar ist. Wenn sie alleinstehend sind,
dann ist empfohlen, dass sie eine bestimmte Zeit am Tag für die
Gemeinschaft arbeiten. Das entscheidet dann auch die Gruppe. Die sagen
dann vielleicht, wer arbeitsfähig ist und keinen eigenen Haushalt zu
versorgen hat, der sollte meinetwegen mindestens zwei Stunden am Tag
arbeiten. Die gehen dann z.B. Holz stapeln oder helfen in der Küche
oder bei allen möglichen Arbeiten.
Wie
läuft eine Versammlung zum Einigen Verständnis ab?
Diese Treffen sind freiwillig und dienen dazu, sich über alle möglichen
Fragen des Zusammenlebens zu einigen, auf der Basis der Schriften von
Vissarion. Es wird ein Versammlungsleiter bestimmt, und dann wird
gefragt, ob jemand eine praktische Hilfe braucht und ob jemand ein
Thema hat, über das gesprochen werden soll. Für das zweitere gibt es
feste Regeln. Diese besagen z.B. dass bevor eine Situation in der
Gruppe besprochen wird - im Prinzip sind es ja meistens zwei Parteien,
die da was miteinander zu klären haben - dass die beiden also über die
Faktenlage bereits zu einem Einigen Verständnis gekommen sein sollten.
D.h. wenn die Situation unterschiedlich gesehen wird, dann kann die
Situation (noch) nicht in der Gruppe besprochen werden.
Es ist im Vorfeld so, dass wenn ich mit jemandem eine Bedrängnis habe,
dann ist dieser als gläubiger Mensch verpflichtet, das mit mir zu
klären. Und umgekehrt ist es auch so, dass wenn ich mit jemandem eine
Bedrängnis habe, dann muss ich das als gläubiger Mensch ansprechen, ich
kann das nicht einfach unter den Teppich kehren, es geht darum, dass
keine
Spannung zwischen uns bleibt.
Dann kommt man und sagt, so und so ist die Situation, und dann werden
in der Regel Fragen gestellt an beide, der Versammlungsleiter sagt
also: 'Hat jemand Fragen, die einer Klärung dienen?' Das Hauptziel
dieser Fragen soll sein, die Motivation der beiden herauszufinden. Dann
wird in der Gruppe überlegt, ob so ein Fall schon einmal vorgekommen
ist und wie man als gläubiger Mensch in so einem Fall richtig handeln
würde. Die anderen können einem also was raten, aber das ist nur ein
Rat. Was die beiden daraus machen, ist ihre Sache. Es geht darum, dass
keine Spannung bleibt, dass die emotionale Beziehung rein gehalten
wird. Wenn man die Motivation des anderen versteht und im besten Fall
auch akzeptieren kann, dann ist die Sache eigentlich schon geglättet.
Manchmal kommt es nicht sofort zu einer Klärung. Aber die Leute gehen
mit dem, was sie gehört haben, erst mal nach Haus und bewegen die Dinge
innerlich. Oder gehen eine Stufe höher, zum Kirchenrat, wenn es ein
wichtiger Fall ist.
Handwerker-Ausstellung auf dem Sommerfest
Bist
du
mit der Kommunikation in eurem Dorf
zufrieden?
Eigentlich schon, im Prinzip kann man jedes Thema ansprechen, und es
wird auch jedes Thema im Prinzip behandelt. Ich könnte mir noch mehr
Offenheit vorstellen, dass die Menschen wirklich mit ihrem Innersten
herausrücken und dass es auch ein Umfeld gibt, wo man das kann. Also
wenn wirklich emotional schwierige Fälle im Dorf sind, wie z.B.
Beziehungsangelegenheiten, dann kann man schon feststellen, dass in der
Versammlung eine sehr weiche Atmosphäre ist und das Bedürfnis, den
anderen zu helfen.
Aber es kommen nicht alle solcher Fälle zur Sprache. Man weiß ja, was
bei den Leuten so los ist, und dann würde man sich manchmal wünschen,
dass die Leute dieses Problem in die Gruppe tragen, aber das wird
häufig nicht gemacht. Möglicherweise geht man auch mal hin, wenn einen
die Person interessiert und sagt: 'Was ist denn da bei euch eigentlich
los?', doch das ist dann mehr ne Eigeninitiative, aber viele Dinge, von
denen man weiß, dass sie irgendwie am Brennen sind, kommen nicht ans
Tageslicht.
Die Leute denken vielleicht, das ist nicht so wichtig oder das
interessiert die anderen nicht ... oder was weiß ich. Und das ist
eigentlich schade, weil das verhindert, dass es einen noch größeren
Zusammenhalt der Leute gibt, was für unser Dorf und wohl auch für alle
anderen Dörfer das Wichtigste wäre. Dass man also das Gefühl hätte, wir
sind eine Familie. Es wird zwar viel über Familie gesprochen, aber
meist nur im Zusammenhang mit Geld und Arbeit und nur selten wird über
die emotionale Verbindung der Menschen untereinander geredet, und das
stört mich schon gewaltig.
Was
hat es
mit dem Küsterdienst auf sich,
den du öfter ausübst? Ist das freiwillig, und was machst du da genau?
Das ist freiwillig - aber "Ehrensache". Die Männer des Dorfes wechseln
sich bei diesem Dienst ab. Man lebt eine halbe Woche als "Wächter" in
der kleinen Kapelle des Dorfes, kümmert sich um das "ewige" Licht, die
Kerzen etc. Der eigentliche Gewinn aber sollte die innere Einkehr sein.
Eine Art komprimiertes Klosterleben. Schriften lesen; kommunizieren
nur, wenn notwendig. Die Frauen sollen ihre Männer in dieser Zeit in
Ruhe lassen, vor allem nicht mit alltäglichen Problemen belasten. Essen
bringen - meinetwegen ein Küsschen - und weg!
Schlägst
du auch die Glocke?
Ja, das gehört dazu. 5 mal am Tag im Abstand von 3 Stunden. Das soll
die Menschen im Dorf zu einer kurzen Andacht animieren.
Die Kapelle von Guljáewka
Ich
habe
gehört, dass auch immer wieder
Leute vom Berg angefordert werden?
Ja, es ergeht ein Aufruf vom Berg [= Modellsiedlung, Sonnenstadt], dass
sie für bestimmte Arbeiten eine bestimmte Anzahl von Leuten aus den
verschiedenen Dörfern brauchen. Es geht dabei um Spezialisten ebenso
wie um Kräfte für unqualifizierte Arbeiten.
So ein Dienst dauert eine Woche, man wohnt dann in der Zeltstadt bzw.
es ist jetzt schon eine kleine Blockhaussiedlung. Das sind jede Woche
so ca. 30 Männer und einige Frauen, die auf dem Berg arbeiten.
Und
wie
oft fällt das an?
Man soll alle fünf Wochen dafür bereit sein. Also, man ist vier Wochen
zuhause und geht dann wieder eine Woche auf den Berg. Für die, die viel
gehen, ist es vielleicht 7 mal im Jahr, und für die, die weniger gehen,
ist es vielleicht 4 mal im Jahr. Es geht dabei hauptsächlich um
Unterstützung bei den Bauarbeiten. Man reist am Montag an und steigt am
nächsten Montag wieder ab, so hat man Gelegenheit, an der sonntäglichen
Liturgie teilzunehmen. Das ist quasi der Lohn für die Mühen.
Kommt
ihr
denn im Alltag auch dazu, in den
Schriften zu lesen, und ist euch das wichtig?
Das wird natürlich als sehr wichtig angesehen, um immer mit den
neuesten Gedanken des Lehrers vertraut zu sein. Für die Deutschen, die
noch nicht so perfekt im Russischen sind, ist das naturgemäß etwas
schwieriger. Ob man dazu kommt, hängt davon ab, welche Priorität man
dem einräumt. Das wird sehr unterschiedlich gehandhabt.
Kommt
es
denn vor, dass für manche in der
Gemeinschaft ihre Daseinsberechtigung ein gewisses Problem darstellt?
Ja, also ich muss sagen, für mich ist das auch ein Thema. Wenn ich
jetzt nicht so bisschen mit der Werkstatt mein Alibi hätte, dann würde
ich mich auch fragen müssen, wozu bin ich eigentlich da. Ich kann nicht
mehr richtig arbeiten usw.
Nachtrag
November 2016:
Das hat sich
geändert. Ich denke schon, dass ich auf meine Art in der
Gemeinschaft einen wertvollen Beitrag leiste
Altar der Erde
Empfehlungen
für Interessenten
Was
würdest du unter diesem Blickwinkel Leuten empfehlen, die sich mit der
Absicht tragen, dauerhaft in der Gemeinschaft zu leben?
Für einen Mann wäre es das Beste, wenn er ein Hobby, eine Neigung oder
ein Talent bis zur Meisterschaft ausbildet - und zwar schon bevor er
hierher kommt. Man sollte also das Ziel haben, hier eine Werkstatt
aufzubauen. Wenn man das als Mann nicht hat, dann muss man überlegen,
warum man eigentlich hierher kommt, dann muss man überprüfen, ob es
nicht reiner Egoismus ist.
Ich sage mal, wenn man kommt und sagt, ich helfe mit, ich bin jung, ich
habe Kraft, ich helfe mit beim Aufbau, ich kann zwar selbst nichts ...
dann fände ich, ist das auch in Ordnung. Aber einfach nur so zu kommen
und zu sagen, das ist gut für meine geistige Entwicklung ... das ist
dann schon mehr Egoismus, meine ich.
Man sollte die Gnade, einen Platz in der Gemeinschaft zu bekommen,
einen Wohnplatz und einen Lebensraum, schon dazu nutzen, um dem
Gemeinwohl zu dienen, also Aufbau der neuen Entwicklungsphase, das ist
meine Vorstellung.
Das
war
jetzt mehr für Männer gesprochen.
Und für Frauen?
(Wie aus der Pistole geschossen:) Die sollen den Männern dienen.
(Lacht.)
Nachtrag
November 2016:
Das nehme ich in dieser Form gern zurück! Mann und Frau dienen sich
gegenseitig - nur vielleicht auf
unterschiedliche Art und Weise.
Wir
haben eben einen Großteil unserer weiblichen Leser verloren. Könntest
du bitte für den verbliebenen Rest noch etwas Tröstliches sagen?!!
Es wäre interessant, die Gründe dafür herauszufinden. Liegt es an der
Gemeinschaft, liegt es an euch in Deutschland, oder liegt es gar an den
Vorurteilen der Leser selbst, die irgendwie zerstört werden? Ich
vermute, das Dritte ist der Fall! Die Lehre Vissarions ist unbequem,
deckt Vorurteile und Egoismen auf, die man lieber verdecken möchte. Ich
kann da keine Trostworte sprechen, das schafft nicht einmal Vissarion.
Da muss man durch, sich dem stellen!
Nachtrag
November 2016:
Die
Mann-Frau-Beziehung ist ein immer wiederkehrendes Thema bei Vissarion.
Gerade aktuell (Oktober/November 2016) wird dieses Thema von Vissarion
im Internet unter "vissarion.name" neu beleuchtet.
Feier am Fluss
Männer
und Frauen
Wie
wird
denn die Rolle von Mann und Frau in
der Gemeinschaft gesehen?
Der Mann ist der Entscheidende in der Familie. Er ist derjenige, der
auf einem Gebiet des Handwerks seine Meisterschaft ausübt und damit für
das Brot sorgt. Die Frau unterstützt ihn dabei, sie kümmert sich um den
Haushalt, die Kinder und den Garten. Er wiederum unterstützt sie darin,
wenn schwere Arbeiten anfallen, z.B. Holzhacken, und er hält das Haus
instand. Der Mann übernimmt die Verantwortung für die Frau, also dass
es ihr gut geht in jeder Beziehung, sowohl materiell als auch seelisch.
Das ist das Ideal.
Sexualität ist immer wieder ein interessantes und beliebtes Thema. In
der Sexualität soll der Mann darauf achten, dass er seinen Egoismus
zurückstellt und dass die Frau zufrieden ist. Sexualität ist die Domäne
der Frau, für den Mann ist Sexualität nicht so wichtig, und deshalb ist
in der Sexualität der Mann der Diener der Frau. Für den Mann ist mehr
die geistig-seelische Entwicklung wichtig, seine Beziehung zu Gott. Für
die Frau ist die Beziehung zum Mann und zu Mutter Erde wichtig.
Für viele ist das, was ich jetzt dargestellt habe, sicherlich eine
Herausforderung, ich empfinde diese neuerliche klare Trennung zwischen
den Verantwortlichkeiten von Mann und Frau als sehr wohltuend, weil ich
das, was ich im Moment in der Gesellschaft sehe, als sehr ungesund
empfinde. Frauen versuchen männlich zu sein und scheitern entweder
kläglich damit oder sie werden eben männlich und sind dann für Männer
nicht mehr attraktiv. Und Männer werden tendenziell fraulicher und sind
dann für Frauen nicht mehr so attraktiv.
Diese Trennung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Aspekt, also
die Polarität, kommt wieder deutlicher zum Vorschein, und damit werden
Männer und Frauen wieder interessanter für einander. Was im Moment für
viele eine Herausforderung ist, ist also eigentlich eine Befreiung, so
sehe ich es. Auch in Russland kommen die Leute ja aus einem
emanzipierten Umfeld, aber nach einiger Zeit wird es von den meisten
als wohltuend empfunden.
Nachtrag
November 2016:
Die
Mann-Frau-Beziehung ist ein immer wiederkehrendes Thema bei Vissarion.
Gerade aktuell (Oktober/November 2016) wird dieses Thema von Vissarion
im Internet unter "vissarion.name" neu beleuchtet.
Ich
habe oft Schwierigkeiten, emanzipierten deutschen Frauen die Rolle der
Frau, wie sie in der Gemeinschaft gesehen wird, zufriedenstellend zu
erklären. Ich empfehle dann meistens, dass sie selbst mal hinfahren
sollen und sich mit den dortigen Frauen unterhalten sollen. Ich habe
das Gefühl, dass man mit Erklärungen nicht weit kommt.
Ja, man muss es einfach erleben und dort mit den Frauen sprechen. Aber,
wie gesagt, ich habe ein Ideal beschrieben. In der jetzigen
Übergangsphase ist einfach alles möglich. Viele Frauen sind heutzutage
immer noch die besseren Organisatoren. Dann ist es eben so, und man
nutzt dann diese Fähigkeiten und reitet nicht auf irgendeinem
Wunschdenken oder einem Prinzip herum.
Es
ist
doch ein Riesenvorteil für euch, dass
ihr in einer Paarbeziehung seid.
Ja,
das macht einen ganz großen Unterschied, das kann man überhaupt nicht
hoch genug einschätzen, was das für ein Unterschied ist, auch für die
geistige Entwicklung. Also, wenn du nur die Reibereien in der Gruppe
hast, dem kannst du dich irgendwie entziehen, wenn es dir zu viel wird,
aber in der Paarbeziehung kannst du dich nicht entziehen, da musst du
die Sache durchstehen - und das beschleunigt die Entwicklung. Weil du
hast dann die Wahl: entweder spielst du den Griesgram bzw. die
beleidigte Leberwurst - oder du löst die Sache.
Frau mit geflochtenem Hut
Könnte
man
also daraus die Empfehlung
ableiten, dass es gut ist, sich hier als Paar anzusiedeln?
Um hierher zu gehen, ist es egal, aber hier sollte man dann eine
Paarbeziehung suchen. Also als Mann für eine Frau die Verantwortung zu
übernehmen, beschleunigt sicherlich die Entwicklung.
Und
als
Mann hat man doch sicherlich auch
gute Chancen, hier bald fündig zu werden, oder?
Frauen sind in der Überzahl, aber man muss auch sagen, es sind sehr
viele ältere. Von den jungen Frauen, ich sage mal von den
heiratswilligen und -fähigen sind auch nicht so üppig viele da, da
könnte man fast von einem Gleichgewicht sprechen.
Von der älteren Generation sind es wesentlich mehr Frauen als Männer,
wesentlich. Also bei den Menschen über 50 würde ich sagen, es gibt fast
5 mal so viele Frauen wie Männer. Bei den jungen Leuten ist es in der
Tendenz eher ausgeglichen.
Wie
sieht der Alltag von Frauen aus?
Die Regel ist so: Wenn eine Frau, ich sage mal, jemanden hat, den sie
versorgt, dann hat das Vorrang vor allem anderen. Und wenn sich darüber
hinaus zusätzliche Freizeit ergibt, dann kann sie die nützen, wie sie
will, also vor allem für künstlerische und handwerkliche Tätigkeiten.
Aber die Voraussetzung ist, dass man sein Tagwerk gemacht hat, also
dass der Mann zufrieden ist.
Wenn eine Frau allerdings kleine Kinder hat, womöglich noch mehrere,
dann ist sie natürlich rund um die Uhr beschäftigt, aber wenn - wie bei
uns - keine Kinder da sind, dann hat die Frau noch genügend Zeit am
Tag. Also Louisa macht am Vormittag alles, was im Haus zu tun ist, und
am Nachmittag macht sie Sachen, die sie ansonsten gerne macht -
handwerklich, designerisch, ...
Ich
weiß von unserem Verein Ökopolis e.V., dass wir viel mehr Anfragen von
Frauen haben, die sich für die Gemeinschaft interessieren, insbesondere
auch von alleinstehenden, die also keinen Mann haben, dem sie dienen
könnten.
Also, ich sag mal so: Wenn ein Mensch, egal ob Mann oder Frau, den
starken Wunsch hat, in die Gemeinschaft zu gehen, dann soll er das
einfach machen und sehen, was passiert. Aber dann auch mit dem Wunsch,
in welcher Form auch immer, mitzuhelfen, und dann wird die Gemeinschaft
schon einen Platz für diesen Menschen finden. Und wenn es eine Frau
ist, wird sie z.B. zum Helfen in einer Werkstatt eingesetzt, falls sie
keine eigenen Initiativen entwickelt. Oder irgendwo, an einem Platz, wo
sie nützlich sein kann.
Also, dass man nicht weiß, was man da machen soll, sollte niemals ein
Hinderungsgrund sein. Man sollte dann nicht sagen, natürlich, dann geh
ich lieber nicht, obwohl man eigentlich ein starkes inneres Gefühl hat,
dass man gehen sollte. Dann sollte man wirklich hingehen und es
zumindest ein halbes Jahr versuchen. Und wenn man dann meint, man passt
da nicht hin, dann kann man immer noch gehen. Aber man sollte trotzdem
hingehen und versuchen, ob sich was ergibt.
Haus in Tscheremschánka
(Foto: C.B., 2009)
Das
Ungleichgewicht zwischen der Anzahl der Männer und Frauen in der
Gemeinschaft scheint auch noch in anderer Hinsicht problematisch ...
Es ist hauptsächlich ein Problem, wenn alleinstehende Frauen,
insbesondere ältere, meinen, sie müssten alleine ein Haus bewohnen -
und dann auch noch die Arbeitskraft der jungen Männer in Anspruch
nehmen, die eigentlich dem Aufbau der Gemeinschaft dienen sollten.
Ein eigenes Haus erfordert nun mal sehr viel Arbeit, die von den Frauen
oft nicht alleine geleistet werden kann. Das wird zunehmend als nicht
tragbar erachtet, und deshalb werden jetzt Altersheime ins Auge
gefasst, wo vieles gemeinsam gestaltet werden kann und wo ein Mann im
Haus ist, der die schweren Arbeiten, wie Holz heranschleppen usw.
bewerkstelligt, damit nicht die Kraft der jungen Leute sozusagen
vergeudet wird, wenn ständig bei den vielen Einzelhäusern wieder ein
Zaun repariert oder etwas anderes gemacht werden muss.
Bei uns im Dorf gibt es sehr viele alleinstehende Frauen, und die haben
alle ein eigenes Haus und die Diskussion kommt immer mal wieder auf. Im
Moment haben wir noch kein Altersheim, also müssen wir ihnen helfen. Es
ist natürlich nicht so, dass man sagt, dann helfen wir ihnen eben
nicht, sondern es wird ihnen schon geholfen. In Tscheremschánka ist
wohl schon etwas im Entstehen, evtl. auch in Petropáwlowka, da bin ich
mir aber nicht sicher.
Kulturelle
Unterschiede
Was
kannst
du über die kulturellen
Unterschiede zwischen Deutschen und Russen sagen?
Die Russen haben ihre Identität mehr bewahrt als die Deutschen. Das ist
historisch bedingt. Der eigentliche Verlust der Deutschen durch den 2.
Weltkrieg ist der Verlust der Identität bei der damaligen Jugend. Viele
sind doch zum großen Teil kleine Amis geworden: Rock`n Roll, Coca Cola,
MacDonald und Co.
Die Russen hören größtenteils noch ihre eigenen Lieder. Zugegeben:
viele Poplieder sind auf einem unerträglich niedrigen
Synthesizer-Niveau.
Nachtrag
November 2016:
Die "Amerikanisierung" greift nun auch in
Russland - besonders unter den Jugendlichen
Gibt
es
eigentlich noch Vorbehalte gegen
Deutsche, die aus der Zeit des 2. Weltkriegs herrühren?
Jedes Jahr am Tag der Befreiung - das ist der 8. Mai, der Tag der
Kapitulation der Deutschen - laufen im Fernsehen immer noch diese
heroischen Filme. Auch sonst ist in vielen Spielfilmen der Antagonist
oftmals ein Deutscher. Andererseits bewundern die Russen die Deutschen.
Aber das ist - wie auch in Westeuropa - eher Respekt, keine Liebe. Das
ist wohl das Schicksal der Deutschen, dass sie von der Welt nicht
geliebt werden.
Musikantentruppe
(Foto: Simkin)
Die
Regeln der Gemeinschaft
Gibt
es
Dinge aus Deutschland, die ihr
vermisst?
Manchmal ne Pizzeria, ein Gläschen guten Wein, Cappuccino, Tiramisu ….
Einfach gepflegt ausgehen. Ein bisschen Rumphilosophieren, aber nicht
zu ernsthaft.
Höre
ich
da richtig? Hast du Wein gesagt?
Ich denke, der Konsum von Alkohol ist in der Gemeinschaft tabu?
Das ist in der Tat tabu. Ich habe nur auf eine konkrete Frage ehrlich
geantwortet.
Ich
lebe schon vegetarisch, die Umstellung auf vegan erscheint mir aber zu
schwierig. Leben dort denn wirklich alle schon vegan? Wie viel Wert
wird überhaupt auf die Ernährung gelegt?
Jeder entscheidet selbst: vegan oder nicht. Wie viel Wert jemand auf
die Ernährung legt, liegt bei jedem selbst. Vissarion folgt dem
Prinzip: Verlange nichts, was der andere nicht einhalten kann. Aber der
Empfehlungen gibt es viele. Und natürlich weiß jeder, dass eine gute
Ernährung wichtig ist für die geistig-seelische Entwicklung.
Wie
viele Zwänge gehen von der Gemeinschaft aus?
Es gibt sehr wenige Zwänge, würde ich sagen. Die Mitglieder der
Gemeinschaft sind angehalten, nicht zu rauchen, keinen Alkohol oder
andere Drogen zu konsumieren und sich vegetarisch oder besser noch
vegan zu ernähren.
Zum Ausschluss aus der Gemeinschaft kommt es nur bei groben Vergehen.
Dazu gehören insbesondere grobe Tätlichkeiten, also wenn z.B. die Frau
oder Kinder geschlagen werden. Oder wenn Trinken oder Rauchen derart
zur Sucht wird, dass man nicht davon lassen kann. Man darf dann zwar im
Dorf weiterleben, aber nimmt nicht mehr am Gruppenleben teil.
Man muss dabei bedenken, dass, wenn man in der Gruppe ist, man ja
sozusagen sozial abgesichert ist. D.h. wenn du eine Not hast, dann wird
dir geholfen. Wenn du nicht in der Gruppe bist, dann kannst du das
nicht erwarten. Es wird allerdings in den meisten Fällen doch so sein
(bisher war es immer so), dass den Ausgeschlossenen auch geholfen wird,
aber es wird erst mal vorher darüber gesprochen, dann ist das also
nicht so selbstverständlich. Und dann wird auch vorrangig den Kindern
geholfen.
Mir
ist bei manchen Fragen aufgefallen, dass du hauptsächlich über die
Verhältnisse in deinem Dorf konkret Auskunft geben kannst. Was in den
anderen Dörfern geschieht, die ja gar nicht so weit entfernt liegen,
bleibt eher vage. Und selbst das, was in eurem Dorf stattfindet,
erscheint mir manchmal ziemlich diffus, obwohl ihr jetzt schon
jahrelang dort lebt. Wenn ich in eine Gemeinschaft ziehen wollte,
möchte ich doch ganz genau wissen, auf was ich mich da einlasse. Ihr
könnt aber anscheinend damit leben, dass ihr euch auf etwas Diffuses
einlasst.
Richtig. Das gehört auch dazu. Dadurch lernt man zu vertrauen, dass
alles, was ist, okay ist. Das ist überhaupt das Wichtigste zu lernen:
Alles, was ist, ist okay. Und das kann noch so bescheuert sein. Alles
ist ein Geschenk für dich. Da kommt so ein richtiges A... auf dich zu
und macht irgendwas völlig Bescheuertes und dann sagst du: 'Dankeschön,
lieber Gott, dass ich das auch noch lernen durfte.' Das ist jetzt ganz
ernst gemeint.
Wenn alles so sanft und super und happy wäre, dann könntest du das gar
nicht lernen. Wenn du in so einer soften Watte-Gemeinschaft lebst und
mit allen gut Freund bist, und dann kommt plötzlich das wahre Leben
daher ... dann kippst du um. Dann sagst du: 'Dieser Sch...kerl, mit dem
möchte ich nichts zu tun haben ...!' anstatt zu sagen: 'Oh ja, danke!'
Aber das ist eine Eigenschaft, die ich in mir auch noch nicht so
gänzlich entwickelt habe.
Kann
man sagen, dass sich euer Leben hauptsächlich im Rahmen eures Dorfes
abspielt und ihr von den Vorgängen in den anderen Dörfern eher wenig
mitbekommt?
Ja, das ist schon so. Wenn man auf den Berg zum Arbeiten geht, kann man
sich viel mit anderen austauschen. Im Großen und Ganzen sind die
Unterschiede in den Dörfern nicht so groß, die Anforderungen und
Anfechtungen die gleichen.
Heißt
das dann eigentlich auch, dass man über die Gemeinschaft als Ganzes
eher keine allgemeinen Aussagen machen kann, sondern dass man sich
immer die Gegebenheiten in den verschiedenen Einheiten z.B. in den
einzelnen Dörfern ansehen muss?
Wie gesagt: Bist du in einem Dorf und nimmst dort intensiv am Geschehen
teil, dann weißt du im Prinzip auch, was in anderen Dörfern geschieht.
Ich
werde gelegentlich gefragt, was es Neues in der Gemeinschaft gibt und
dann fällt es mir meist schwer, etwas zu berichten. Entwickelt sich die
Gemeinschaft eher in kleinen und unauffälligen Schritten?
So könnte man es formulieren. Der Fortschritt besteht in den kleinen
Fortschritten der beteiligten Individuen.
Schamane bei einer Feierlichkeit
Struktur
und Hierarchie
Welche
"Gremien" gibt es in der Gemeinschaft?
Dorfübergreifend gibt es den Kirchenrat, bestehend aus 3 oder 4 Leuten.
Ich glaube, der ist von Vissarion eingesetzt, der ist nicht gewählt.
Der Kirchenrat hat die Aufgabe, Fragen an Vissarion vorzusondieren und
zu entscheiden, ob eine Frage schon früher von Vissarion beantwortet
wurde. Die müssen also die Schrift durchsuchen und belegen, dass eine
Frage schon geklärt ist. Sie können die Frage ihrem Verständnis nach
beantworten, oder aber sie geben die Frage an Vissarion weiter, wenn
sie sich unsicher sind.
Wenn sie eine Frage selbst beantworten, kann der Fragende aber, wenn er
mit der Antwort nicht zufrieden ist, darum bitten, dass Vissarion
selbst befragt wird. Unabhängig davon kann man natürlich am Sonntag -
und neuerdings auch am Mittwoch - unzensiert Fragen an Vissarion
stellen, auch die, die schon tausend mal gestellt wurden.
D.h.
der Kirchenrat ist eher so ein passives Gremium, er bleibt untätig, bis
an ihn Fragen gerichtet werden. Er hat keine aktiven Aufgaben, etwas zu
planen, zu lenken oder irgendwo einzuschreiten?
Ja. Der Kirchenrat arbeitet quasi reaktiv.
Es
gibt
doch aber auch staatliche Strukturen.
Ja, es gibt einen Bürgermeister in Tscheremschánka, der für
Tscheremschánka, Petropáwlowka, Guljáewka und Shárowsk zuständig ist,
diese vier Dörfer werden als Gesamtgemeinde betrachtet. Der jetzige
Bürgermeister stammt aus der Gegend, steht aber auch der Gemeinschaft
sehr nahe. Deshalb wird er sowohl von den Einheimischen als auch von
den Gemeinschaftsmitgliedern respektiert.
Nachtrag
November 2016:
Die aktuelle Bürgermeister ist ebenfalls ein
Nachfolger Vissarions - der ehemalige Zahnarzt von Petropawlowka.
Ich
dachte, dass jedes Dorf einen
Bürgermeister hat.
In jedem Dorf wird von den Gemeinschaftsmitgliedern ein sog.
Dorfältester (Starost) bestimmt, und der wird auch von den
Einheimischen in Anspruch genommen, wenn sie Probleme haben. Das ist
eine ehrenamtliche Funktion. Er weiß Bescheid, was in den Familien so
läuft, besonders an Problemen. Er hilft Ausländern, damit diese gültige
Dokumente haben und Hilfe bekommen. Er ist dafür verantwortlich, dass
mit den Häusern alles gerecht geregelt wird, also wer welches Haus
bekommt usw.
Der Dorfälteste hat mehr eine fürsorgerische Funktion. Er spricht nicht
für das Dorf und hat bei Entscheidungen keine besonders gewichtige
Stimme.
Nachtrag
November 2016:
Die
Funktion des Dorfältesten wurde abgeschafft. Die praktischen Belange
des Dorfes (u.a. die tägliche Aufgabenverteilung) werden von einem
dreiköpfigen "Wirtschaftsrat" geleitet. Für die geistigen Fragen ist
entweder ein Priester verantwortlich (davon gibt es in der Gemeinscgaft
inzwischen sechs), oder - wie in Guljaewka - ein von der
Dorfgemeinschaft gewählter Verantwortlicher.
Wie
fallen dann Entscheidungen im Dorf?
Da gibt es Konventionen, aber keine festen Regeln. In den kleineren
Dörfern versuchen sie es meistens so zu machen, wie sie es in
Petropáwlowka machen, weil sie davon ausgehen, dass es dort am ehesten
so ist, wie Vissarion meint, dass man es machen sollte.
Im Moment hat es sich so entwickelt, dass es eine Männer-Versammlung
gibt, einmal die Woche, und eine allgemeine Wirtschaftsversammlung. In
der Männer-Versammlung werden Entscheidungen vorbereitet und man legt
sich auch schon mal fest, wie eine Sache am besten zu machen ist, aber
abschließend entschieden wird dann in der Hauptversammlung, wo dann
auch die Frauen dabei sind. Bei uns sind ja sehr viele Frauen und
insofern kann eine Sache in der Hauptversammlung noch mal ganz neu
entschieden werden.
Wer
leitet
diese Versammlungen?
Am Anfang jeder Versammlung wird ein Moderator gewählt, der sich
eigentlich auch nicht an der Diskussion beteiligen sollte, das geht
ganz flott. Der Moderator fragt dann, welche Themen anliegen, diese
werden von einem Protokollanten aufgenommen und zumeist vom Moderator
in eine Reihenfolge gebracht und dann Thema für Thema abgehakt.
Haus in Shárowsk
Nach
welchem Modus werden Entscheidungen
getroffen?
Wir entscheiden noch nach dem Mehrheits-Prinzip. Die Mehrheit der
anwesenden Stimmberechtigten entscheidet, also keine Gäste usw. Wenn
die Entscheidung allerdings sehr knapp ausfällt, wird der Moderator
vielleicht fragen, ob man die Entscheidung evtl. vertagen soll oder
noch mehr Informationen einholen und alles überdenken soll. Also, wenn
es sich um wichtige Entscheidungen handelt, kann es sein, dass das
Problem nochmals neu aufgerollt wird.
Um
was für
Fragen geht es denn da so?
Es geht im Wesentlichen um Fragen organisatorischer und
wirtschaftlicher Natur. Bei organisatorischen Fragen geht es zumeist um
Feste und Festvorbereitung, da ist ja rund ums Jahr immer was los und
das erfordert viel Aufmerksamkeit.
Gibt
es
bei euch im Dorf auch einen
Wirtschaftsrat?
Gibt es. Solange wir noch mit Geld operieren, verwalten wir einen
richtigen Haushalt. Das heißt, es gibt verschiedene Fonds, z.B. für die
Entwicklung von Werkstätten, für den Kindergarten, für Krankheitsfälle
(also wenn jemand ins Krankenhaus muss z.B.), für Feste und
Feierlichkeiten, für Brennmaterial für öffentliche Gebäude, also bei
uns für die Kirche und den Kindergarten und für viele kleinere
Bereiche. Eine Buchhalterin führt alle Ein- und Ausgaben in einem
Journal.
Dann wird entschieden, welche gemeinsamen Projekte wir machen,
insbesondere Bauprojekte, wo jetzt bei wem Hilfe angesagt ist, z.B. bei
einem Grundstück ist der Zaun morsch geworden und eingebrochen und dann
entscheidet man, wer, mit wie viel Leuten, wann und ob überhaupt man
dort etwas unternimmt. Also Arbeitseinsätze, z.B. auch zum Sauberhalten
des Geländes am Fluss, wo im Sommer viele Touristen hinkommen, das
haben wir uns zur Aufgabe gemacht. Natürlich beim Bauen helfen oder
jetzt im Winter Schnee räumen und Dächer abschaufeln, das ist im Winter
eine immer wiederkehrende Aufgabe. Das machen wir hauptsächlich am
Samstag, da ist immer 4-5 Stunden allgemeine Arbeit angesagt, also für
die Männer, die Frauen machen 2 Stunden, glaube ich. Da werden dann
Gruppen eingeteilt, z.B. ihr 4 Leute nehmt den Bereich und schaufelt
dort die Dächer frei usw. Also, das macht nicht jeder für sich selbst,
sondern da gehen Arbeitstrupps los und machen die Dächer frei.
Männer beim Abschaufeln eines Daches
Gibt
es
neben dem Kirchenrat noch ein
weiteres dorfübergreifendes Gremium?
Es gibt die Versammlung der Dorfältesten. Da werden hauptsächlich
Informationen weitergegeben und ausgetauscht. Die entscheiden aber
überhaupt nichts. Es gibt immer wieder Hinweise von Vissarion, wie die
Dörfer sich strukturieren sollten, wie sie sich verwalten und regieren
sollten. Das ist ja nicht ganz unwichtig. Solche Sachen werden hier
weitervermittelt.
Letztens ging es z.B. um eine Vorstellung des Lehrers, dass die Dörfer
sich nicht mehr einzeln betrachten, sondern dass es im Prinzip drei
Säulen unserer Gemeinschaft gibt, also die Paare, sowie die
alleinstehenden Männer und die alleinstehenden Frauen, die sozusagen in
sich einen einheitlichen Schwingungskreis bilden - und das
dörferübergreifend. Dass man das also nicht mehr nach Dörfern sieht,
sondern nach energetischen Gruppen.
Das war so ein Impuls, der von Vissarion kam, mit der praktischen
Maßgabe, dass sich z.B. die Frauen zu Frauenkreisen treffen sollten und
wo dann auch gewisse Leute autorisiert wurden, diese Treffen inhaltlich
zu strukturieren. Bei den Männern ist es meistens der Priester Sergej,
der da führend wirkt.
Nachtrag
November 2016:
Die
Versammlung der Dorfältesten ist nun eine "Konferenz" von meistens
mehreren Vertretern aller Dörfer. Hier werden hauptsächlich die
Anregungen Vissarions weitergegeben. Auch werden hier die
dorfübergreifenden Festlichkeiten vorbereitet.
Die
Einige Familie
Was
versteht man eigentlich unter dem häufig
zu hörenden Begriff "Einige Familie"?
Die Einige Familie sollte so etwas sein wie eine große Naturfamilie.
Das heißt u.a., man wirtschaftet zusammen. Vor allem aber sollte ein
gutes Vertrauensverhältnis untereinander herrschen, ein
rücksichtsvoller und verständnisvoller Umgang untereinander.
Finanzielles
Man
hört
immer wieder, dass in der
Gemeinschaft kein Geld kursiere. Ist das wirklich wahr?
Nein. Im Moment leben wir noch mit Geld. In der momentanen
Übergangsphase ist es nicht empfehlenswert, ohne ein gewisses
finanzielles Polster in die Gemeinschaft überzusiedeln. Man muss sich
ein Haus kaufen oder bauen lassen können. Und man muss - je nach seinen
Bedürfnissen - irgendwie leben können. Entweder du stellst etwas her,
was für andere interessant ist und was deinen Unterhalt sichert; oder
du hilfst irgendwo - für Unterkunft, Verpflegung und Abdeckung der
minimalen Lebensunterhaltskosten. Es ist ratsam, das alles vorher zu
klären, bevor man übersiedelt.
Man braucht allerdings für westliche Verhältnisse nicht sehr viel. Also
wenn man 25-30 Euro pro Monat hat oder sagen wir meinetwegen auch 50
Euro, um auf der sicheren Seite zu sein, dann kann man dort leben,
vorausgesetzt man hat einen Platz, wo man wohnen kann.
Stand der Textilwerkstatt auf dem Sommerfest
Wie
funktioniert das mit den Finanzen in der
Einigen Familie?
Wenn man Voll-Mitglied ist in der Einigen Familie, dann gibt man in der
Regel alles, was man an Einkünften hat, ab und behält nur ein Minimum
zum Leben ein. Wie viel jemand als Minimum benötigt, das wird
individuell betrachtet. Wenn man z.B. zusätzliche medizinische Hilfe
braucht, oder auch, wenn es für jemanden wichtig ist, einmal im Jahr
nach Deutschland zu reisen aus den und den Gründen. Dann dürfen die
dafür etwas einbehalten. Aber das sind dann Regelungen, die man mit der
Gemeinschaft ausmacht, und dann kann man entscheiden, ob man damit
leben kann oder nicht. Aber die Standard-Regel ist, alles abzugeben.
Nachtrag
November 2016:
Die
Regel, alles abzugeben, wurde wegen praktischer Undurchführbarkeit
aufgehoben. Die Leute - wir auch - sind dafür noch zu sehr auf
Eigennutz fokussiert. Im Moment werden 10% an die Gemeinschaft
abgegeben (der "Zehnte" also), weitere 20% gehen in die Dorfkasse.
Heißt
das, wenn ich Vermögen habe, gebe ich das ab? Ebenso wenn ich noch
laufende Einnahmen (wie Rente oder Mieteinnahmen etc.) habe? Wie ist es
z.B. mit dem eigenen Haus, evtl. dem Auto? Wird das alles dann Eigentum
der Gruppe?
Man entscheidet sich freiwillig zu dem Schritt in die "Einige Familie".
Allerdings: Die Einige Familie ist Vissarions Hauptanliegen. Die ganze
Welt soll eine Einige Familie werden, in der jeder über den anderen
Bescheid weiß - wie in einer Großfamilie - und in der alle Güter
gerecht miteinander geteilt werden.
Im Einzelnen sieht das so aus, dass private Güter, insbesondere Haus
und Grund, beim Eigentümer verbleiben. Auch der Haushalt, das Werkzeug
etc. ist kein Allgemeingut. Wenn du aber Einkommen hast, so kommt das
der Allgemeinheit zugute - bis eben auf das Minimum für den
Lebensunterhalt.
Wie
wird
das gehandhabt, wenn ich die Einige
Familie wieder verlassen will? Bekomme ich dann mein Vermögen zurück?
Ich habe das im Detail noch nie erlebt, auch weil wir es - wie gesagt -
in unserem Dorf noch gar nicht geschafft haben, eine wirklich
funktionierende Einige Familie zu organisieren. Mein Eindruck ist auch,
dass es wirklich reichen Leuten - und davon gibt es ja nur ganz wenige
- zumeist gelingt, ihr Vermögen nicht einzubringen, z.B. indem sie
nicht Voll-Mitglied in der Einigen Familie werden, sondern nur Helfer.
Insofern ist das mit dem Verlassen der Einigen Familie auch nicht so
problematisch.
Wie
hoch
ist denn das Minimum aktuell?
Das ändert sich immer wieder, und es variiert sogar von Dorf zu Dorf.
Mal waren es 1000 Rubel (ca. 25 Euro), mal ging es runter auf 500
Rubel. Aber dann ist es schon so, dass du dir überlegst, ob du dir 'ne
Zahncreme kaufst oder nicht.
Mit
diesem
Minimum bestreitet man also
seinen kleinen alltäglichen Bedarf?
Ja. Und wenn man eine spezielle Ausgabe hat, dann fragt man die
Gemeinschaft. Z.B.: Ich friere, ich brauche warme Winterstiefel, könnt
ihr mir die kaufen?
Nimmt
das
nicht viel Zeit ein, alle diese
Bedürfnisse zu diskutieren?
Also bei uns in Guljáewka ist das sowieso noch keine Praxis, weil wir
de facto noch gar keine Einige Familie sind. Das fängt vielleicht bei
uns jetzt gerade so an. In Petropáwlowka weiß ich nicht, ob das
schwierig ist oder wie überhaupt.
Nachtrag
November 2016:
Es gibt in Guljaewka seit mehreren Jahren eine
Einige Familie. Wie oben
bereits erwähnt, werden 10% des Einkommens an die Gemeinschaft
abgegeben, weitere 20% gehen in die Dorfkasse.
Müsst
ihr
eigentlich auch Steuern oder
sonstige Abgaben bezahlen?
Wer professionell verkauft, muss auch Steuern zahlen. Es gibt aber auch
die Möglichkeit, pauschal zu versteuern, so dass man nicht alles
belegen muss. Grundsteuern zahlt man auch, aber vergleichsweise sehr
wenig.
Der Fluss Kasir im Nebel
Bürokratie
Für
den
Aufenthalt in Russland braucht man
ja ein Visum.
Für einen Kurztrip von maximal 4 Wochen reicht ein Touristenvisum. Wenn
jemand länger bleiben möchte, benötigt man eine formelle Einladung.
Normalerweise gibt es einen Ansprechpartner in Sibirien, der dabei
behilflich ist. Man sollte sich beim Verein Ökopolis in Deutschland
nach den aktuellen Gegebenheiten erkundigen.
In jedem Falle ist darauf zu achten, dass der Pass noch ein halbes Jahr
über das Einreisedatum hinaus gültig ist. Bei der Beschaffung eines
Visums ist das Reisebüro behilflich - vorzugsweise ein auf
Russlandreisen spezialisiertes.
Welche
bürokratischen Hindernisse kommen auf
"Ausländer" zu? Wie sieht es mit der Aufenthaltsgenehmigung aus?
Wenn man hier leben will, beantragt man zunächst einen "zeitweiligen
Aufenthalt". Das kann man sowohl in Deutschland als auch in Sibirien
tun. Der gilt dann für drei Jahre. Es kann aber bis zu einem Jahr
dauern, bis der Bescheid kommt. Für diese Aufenthaltsgenehmigung gibt
es in der Regel eine Quote, über die die Konsulate Auskunft geben
können.
Nach einem Jahr Aufenthalt in Russland kann man "Aussicht auf
Staatsbürgerschaft" beantragen. Das ist so was wie ne Green Card in
Amerika. Also man kann frei ein- und ausreisen, arbeiten, und so weiter.
"Aussicht auf Staatsbürgerschaft" gilt für fünf Jahre und kann beliebig
oft verlängert werden.
Nachtrag November 2016:
Neuerdings
wird für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung eine Prüfung
verlangt zu den Themen: Recht, Geschichte und russische Sprache.
.
Austausch
und Vernetzung
Welche
Austauschmöglichkeiten für andere
Gemeinschaften oder Individuen kann die Gemeinschaft jetzt schon
anbieten?
Jugendaustausch, Wildholz-Praktikum, Pferdezucht, Gärtnern,
Waldorf-Schule. Wer irgendeine Art von Austausch sucht, sollte auf
jeden Fall mal anfragen, ganz oft lässt sich etwas arrangieren.
Vorurteile
Meiner
Meinung nach wird die Gemeinschaft in den Medien oft als apokalyptische
Weltuntergangs-Sekte dargestellt. Wie denkst du darüber?
Die Welt wird nicht untergehen. Sie wird in einem anderen Licht
erstrahlen. Mit neuen Menschen. Es ist erhebend, dabei sein zu können.
Gemeinsames Singen im
Kirchenraum (Foto:
Simkin)
Was
entgegnest du auf andere Vorurteile, die über die Gemeinschaft in
Umlauf sind? Es wird z.B. immer wieder das Schreckgespenst des
Massenselbstmordes in Jonestown ausgegraben.
Solche Menschen habe ich noch nicht getroffen. Und was die Beauftragten
der evangelischen Kirche im Internet veröffentlichen, das bedarf keines
Kommentars. Das ist einfach nur peinlich.
Angeblich
soll es dort Männer geben, die mit
mehreren Frauen zusammenleben.
Ja, soll es geben. Es gab mal eine Zeit, wo das - man könnte sagen -
eine Modeerscheinung war. Es wurden damals aber auch sehr umfangreiche
Voraussetzungen von Vissarion aufgestellt, die in einer solchen
Beziehung einzuhalten waren. Z.B. dass der Anstoß für ein solches
Dreiecks-Verhältnis von der Frau ausgehen musste, die z.B. ihre beste
Freundin dazu einlud, mit im Haus zu wohnen.
Für die Frauen war das dann ein Übungsfeld, um mit ihrer Eifersucht
umzugehen, für die Männer, um ernsthaft Verantwortung zu übernehmen.
Das hat aber inzwischen deutlich nachgelassen.
Wir haben im Dorf eine solche Konstellation, die aber auch sehr
problematisch ist und wo fast keine dieser Voraussetzungen erfüllt ist.
Das ist also kein Vorzeigefall, das ist eher ein kritischer Fall. Die
sind auch in ständigem Kontakt mit dem Kirchenrat und lassen sich da
beraten usw. So sollte es eigentlich nicht sein.
Besucher
aus Deutschland äußern sich manchmal enttäuscht über das ökologische
Bewusstsein in der Gemeinschaft. Was sagst du dazu?
Das kann ich verstehen. Aber die geistige Entwicklung hat nun mal
Vorrang. Das Ökologiebewusstsein kommt zwangsläufig - wenn auch später.
Im
Artikel in der Zeitschrift GEO vom Dezember 2009 stand, dass viele hier
ein Plumpsklo im Garten für eine Bio-Toilette hielten. Wie sieht es mit
dem Wissen über Ökologie und die nötigen Technologien aus?
Damit ist es leider nicht weit her, und manchmal habe ich auch den
Eindruck, dass das Interesse nicht arg groß ist. Ich habe z.B. bei uns
eine Kompost-Toilette gebaut und darauf geachtet, dass die Fäkalien
nicht mit der Zeit ins Grundwasser gelangen können. Ich habe das dann
auch in einer Versammlung angesprochen und angeboten, dass die Leute
sich das bei uns anschauen und alle Informationen bekommen können. Es
hat jedoch nur einer Interesse bekundet, gekommen aber ist noch keiner.
Es ist einfach noch kein Bewusstsein und kein Interesse dafür da.
Vielleicht dürften wir uns nicht mal als "ökologische" Gemeinschaft
bezeichnen. Das ist wie so vieles bei uns eine Zielvorstellung. Aber
die Realität wird von den Leuten gemacht und vom Bewusstsein der Leute.
Und auf diesem Gebiet sind die Russen halt keine Vorreiter.
Wir deutschen Bewohner machen eben das, was wir meinen machen zu
müssen, und sagen es, aber - so wie Vissarion - wir sagen es, aber was
die Leute machen, ist ihre eigene Geschichte.
Ein
weiterer Kritikpunkt ist der westliche
Lebensstil, der sich anscheinend immer mehr in der Gemeinschaft
einschleicht.
Das kann jeder selbst entscheiden. Man lernt dabei, auf sich selbst zu
schauen, egal, was die anderen machen. Man lernt u.a., Versuchungen zu
widerstehen.
Es
wird von heftigem Fernsehkonsum berichtet, fast jeder scheint die
Möglichkeit zu haben, sich Filme auf DVD anzuschauen und das auch zu
tun.
Ich maße mir nicht an, das zu beurteilen, weil ich nicht weiß, was die
Leute sich wirklich anschauen. In Russland hat es einfach Tradition,
dass den ganzen Tag der Fernseher läuft. Das heißt noch nicht, dass die
hingucken, der läuft einfach - und der wird auch nicht abgeschaltet,
wenn Besuch kommt. Es hat mal jemand gesagt, dass es einfach zu einem
russischen Haushalt gehört, dass der Fernseher läuft.
Es
gibt
sogar Kritik daran, dass z.B. die
Frauen zu freizügig herumlaufen, kurze Röcke tragen, Bauchtanz machen
usw.
Prüde sind wir hier nicht. Die Männer genießen das größtenteils, wenn
die Frauen sich schön zurecht machen. Wenn die Frau allerdings
übertreibt, wird sie das schon an der Resonanz merken.
Achteckiges Haus in Shárowsk
Vissarion
Du
hast am Anfang gesagt, dass du dich von der Einfachheit von Vissarion
angesprochen gefühlt hast. In neueren Berichten wird immer wieder
versucht, ihn als privilegiert hinzustellen. Auf seinem Schreibtisch
stünden zwei Computer-Flachbildschirme, er fährt als einziger mit einem
Quadrocycle (vierrädriges Motorrad) durch die Taiga usw. Ist da was
dran?
Ich glaube, von diesen Motorrädern hat ihm ein reicher Russe drei Stück
geschenkt, mit denen er und Vadim und noch jemand nach Petropáwlowka
fahren, wenn dort Treffen sind. Ich sehe das jetzt nicht als Privileg,
dass es für ihn jetzt leichter ist, denn er kommt ja zu uns, wenn er in
die Dörfer fährt und nicht wir zu ihm. Dass man ihm da ein bisschen
Komfort gibt und ihm nicht zumutet, zwei Stunden lang durch die Taiga
zu laufen und dann in irgendeinem Schepperwagen durch die Schlaglöcher
zu fahren, scheint mir jetzt nicht irgendwie verkehrt.
Zu den Flachbildschirmen kann ich nichts sagen. Wenn man ihn mit den
Augen eines Journalisten als irgendeinen Guru ansieht ... selbst dann
ist er z.B. gegen Bhagwan mit seinen 90 Rolls Royce noch ein
Waisenknabe.
Die
Schreiber der Wikipedia behaupten, dass Vissarion die Dörfer
kontrolliere und "ungeteilte und allzeitliche Verehrung durch seine
‚Jünger' fordere". Wie erlebst du das in der Praxis?
Also fordern tut er schon mal gar nichts. Das kann man wohl ganz
allgemein behaupten. Seine Lehre bezüglich seiner Schüler ist, dass sie
ihr Schicksal selbst in der Hand haben. Er sagt, er hat eine Lehre, und
wenn man ihr folgt, wird es einem gut gehen im Leben, und wenn man ihr
nicht folgt, wird es einem nicht so gut gehen. Aber jeder hat die freie
Wahl, und er fordert nichts.
Es
wird meiner Meinung nach der Eindruck erweckt, die Leute stünden
vollständig unter seiner Knute. Wie aufdringlich ist denn sein Wirken
für die Leute, die dort leben? Wie sehr tritt er überhaupt in
Erscheinung?
Er kommt jetzt nicht mehr so viel in die Dörfer, die Leute erleben ihn
ja jetzt meistens oben an seiner Wohnstätte. Also, das ist ein völliger
Schwachsinn, er fordert überhaupt nichts - also Verehrung fordert er
auf keinen Fall. Die Leute knien nicht vor ihm, die Leute buckeln nicht
vor ihm, die Leute behandeln ihn eigentlich eher wie einen ganz
normalen Menschen.
Vadim, Bogdan und Vissarion
Und
er
spricht doch auch niemanden an und
sagt: Du darfst dies und jenes nicht machen. Oder?
Nein. Er reagiert meistens sowieso nur auf Fragen. Sein ganzes Hiersein
besteht ja im Prinzip darin, Fragen zu beantworten.
Und
dann
bleibt es dir als Fragendem immer
noch überlassen, das Gehörte umzusetzen oder zu sagen: interessiert
mich nicht.
Ja, klar. Es ist ja eher so: Aus der Fragenstellung ersieht er, für
welche Tiefe der Antwort der Fragende bereit ist. Insofern wird er die
Antwort so abfassen, dass sie den Menschen nicht unter Druck setzt oder
etwas von ihm gefordert wird, was er noch nicht leisten kann.
Den Menschen wird immer ein Angebot unterbreitet, das sie mit ihren
derzeitigen Kräften und Möglichkeiten auch umsetzen können. Also, vom
Fordern ist er schon weit weg.
Außerdem
wird geschrieben, dass Vissarion noch jeglichen Beweis schuldig
geblieben wäre, dass er die Wiedergeburt von Jesus von Nazaret ist.
Stört dich das? Oder anders gefragt: Wie könnte er das wohl beweisen?
Hier müsste man wohl zuerst einmal fragen, wer das denn entscheiden
könnte. Der Papst? Der Dalai Lama? Eine Gruppe von
Religionswissenschaftlern? Die Mehrheit der Weltbevölkerung? Oder
vielleicht doch lieber der amerikanische Präsident?
Es ist völlig unmöglich. Man kann weder beweisen, dass er es ist, noch
wird man je beweisen können, dass er es nicht ist. Beide Beweise sind
unmöglich.
Die
Lehre von Vissarion
Es
wird z.B. in der Wikipedia immer wieder behauptet, die Lehre von
Vissarion sei ein Konglomerat aus Taoismus, Islam und Buddhismus. Des
weiteren wollen sie noch starke Verbindungen zum Neohinduismus, zur
Theosophie und zur New Age-Esoterik gefunden haben. Was sagst du dazu?
Ich würde sagen, es ist umgekehrt: All die genannten Lehren beinhalten
einen gewissen Teil der Wahrheit. Wenn Vissarion die Wahrheit
verkündet, ist es klar, dass er dabei in Übereinstimmung steht mit
gewissen Teilen von anderen Lehren.
Wenn man aber behauptet, dass er seine Lehre diesen Lehren entnommen
habe, wird dieser Zusammenhang genau auf den Kopf gestellt. Der
Ursprung aller Lehren ist die Wahrheit.
Dass
Vissarion auch ganz originär Neues gebracht hat, wird meiner Meinung
nach bisher viel zu wenig beachtet, z.B. die Lehre von den zwei
Ursprüngen, dem Alleinigen und dem Himmlischen Vater. Gerade für
Christen würden sich auf diesem Hintergrund viele Widersprüche
auflösen. Auch die Frage, wie Gott dies oder jenes Unglück zulassen
konnte, erschiene in einem ganz anderen Licht.
Ja, auch das Auseinanderdividieren von Altem und Neuem Testament. Das
Alte Testament stammt ja nicht vom Himmlischen Vater ...
Fragestunde im Farntal
"Ketzerisches"
Wäre
es auch möglich, dass sich da jemand ansiedelt, der mit der ganzen
Philosophie der Gemeinschaft nichts am Hut hat, sondern nur in Ruhe
seine Kinder großziehen will oder Pferde züchten oder sonst was?
Ja, vor allem wenn dieser Mensch die Gemeinschaft auf irgendeiner Ebene
bereichert, z.B. mit einem Wissen über Anbaumethoden oder durch ein
Handwerk, das für die Leute interessant ist. Und wenn er vielleicht
sogar Kinder mit ausbilden oder einbeziehen kann, dann schaut die
Gemeinschaft sicherlich nicht darauf, ob er sich als Nachfolger von
Vissarion bezeichnet.
Wenn er etwas zu geben hat, dann wird das auf jeden Fall akzeptiert,
und auch er als Mensch wird akzeptiert. Nur die, die sich als
Nachfolger von Vissarion bezeichnen und mitmachen wollen, die müssen
sich den Kriterien stellen, die allgemein an Nachfolger von Vissarion
gestellt werden. Aber da hat man ja die freie Wahl.
Aber wenn man nur so da ist, dann braucht man sich ja auch niemandem
gegenüber zu rechtfertigen für das, was man tut. Aber man ist dann auch
nicht in der Gemeinschaft in dem Sinne. Und auch nicht in den geistigen
Entwicklungsprozess involviert, aber das will man dann ja auch nicht.
Aber diese Menschen können durchaus wertvoll sein für die Gemeinschaft.
Als Beispiel: Louisa hat mal mit Vissarion besprochen, ob sie in der
Werkstatt Menschen einbeziehen kann, die nicht zur Gemeinschaft
gehören, also auch Altgläubige und Alteingesessene. Und da hat
Vissarion gesagt, wer arbeitswillig ist, mit dem solle sie arbeiten,
mit den anderen nicht und nicht darauf achten, ob sie Nachfolger sind
oder nicht. Die Nachfolger sind nämlich mitunter auch faul, die haben
ja ihre geistige Entwicklung als Alibi und haben immer was zu tun,
müssen bei anderen Leuten helfen. Louisa hatte oft Schwierigkeiten mit
Leuten aus der Gruppe. Mit den anderen hatte sie seltener
Schwierigkeiten, die denken einfach normal.
Muss
man
in Sibirien leben, um sich
spirituell zu entwickeln?
Nicht unbedingt. Allerdings sollte man die Prinzipien kennen, die die
zwischenmenschlichen Beziehungen prägen. Wenn man also immer das
Neueste vom Lehrer mitbekommt und das auch praktiziert, dann kann man
auch woanders weiterkommen. Aber wie gesagt, das Umfeld ist in Sibirien
unterstützender. Das ist doch wichtig!
Aber
die von dir genannten Voraussetzungen sind für uns in Deutschland doch
fast gar nicht zu erfüllen, z.B. die neuesten Aussagen von Vissarion
mitzubekommen. Dazu müsste man auch perfekt Russisch sprechen.
Man kann! In der Zeitschrift "Die Lebensschule" werden die aktuellen
Aussagen abgedruckt.
Sind
die
Menschen in der Gemeinschaft die
besseren Menschen?
Diejenigen, die das meinen, sind Opfer des Hochmuts - dem Erzfeind des
Menschen.
Kann
die
Gemeinschaft auch ohne Vissarion
weiter bestehen?
Sie kann und muss! Ich meine, dass die Verschmelzung in Zukunft die
wichtigste Art der Kommunikation sein wird. Deswegen sollte man sich
heute darin schulen.
Herausforderungen
Was
sind
die größten Herausforderungen,
denen ihr dort ausgesetzt seid?
Die eigentliche Aufgabe ist es, dem Widersacher im Inneren die Luft zu
nehmen. Der Widersacher ist ja nicht irgendwo da draußen, in der
Regierung oder in der Polizei, der Widersacher ist mitten in uns selbst.
Die anderen sind praktisch die Hilfsmittel, die mich immer wieder daran
erinnern und darauf stoßen. Das ist das eigentliche Wesen der
Gemeinschaft. Alles andere ist nur die Oberfläche.
Insofern
wäre es auch völlig falsch, den Anspruch an die Gemeinschaft zu haben,
dass dort alles in totaler Liebe, Freundlichkeit und Harmonie abläuft?
Richtig. Genau das Gegenteil ist nicht nur der Fall, sondern es ist -
wie ich Vissarion verstehe - sogar beabsichtigt, dass sie durch die
Reibung die Seelen reifen, indem sie in so genannte "Situationen"
kommen. Da muss man sich entscheiden, wie man sich verhält, ob man in
der Liebe bleibt - oder ob man in die Verdammung geht.
Ich sehe es ja an mir selbst. Ich weiß das im Prinzip alles, aber -
plumps, jedes Mal plumpse ich da rein. Wenn ich an einen bestimmten
Bruder denke, kommt mir immer noch die Galle hoch.
Doch wenn man dann mal einen lichten Moment hat, versucht man die Lehre
zu begreifen und diese Schwächen, die man beim anderen sieht, bei sich
selbst auszumerzen. Und das muss man erst mal erkennen. Also bei dem
besagten Bruder kann ich schon gewisse Parallelen zu mir erkennen,
jedenfalls in manchen Aspekten, durchaus. Das ist schon mal der erste
Schritt.
Erwartest
du etwas Bestimmtes in der Zukunft
oder auch: Erwartet die Gemeinschaft als Ganzes etwas in der Zukunft?
Die Gemeinschaft als Ganzes erwartet schon, dass gravierende Umbrüche
auf uns zukommen. Und das steht immer wie so eine graue Wand vor uns,
mit dem Ziel, vorbereitet zu sein, wenn etwas Außergewöhnliches kommt
und auch, ich sag mal, versuchen zu überleben. Das Thema ist schon
immer unterschwellig irgendwo da. Vissarion hat das immer mal wieder
anklingen lassen.
Das ist das Eine, aber wie man dieser Situation begegnet, ist
eigentlich weniger eine materielle Frage, sondern ist eine Frage des
seelischen Überlebens, also wie bereitet sich die Seele darauf vor, das
ist der entscheidende Punkt. Das Wichtige ist, dass die Seele reift, um
schwierige Situationen zu überstehen. In unserem Dorf vermisse ich ein
wenig die Vorbereitung in dieser Richtung.
Musikalische Darbietung im Freien
Könntest
du dir denn vorstellen, wie dieser
seelische Entwicklungsprozess angestoßen werden könnte?
Man müsste eigentlich in jeder Versammlung neu den Mut aufbringen, um
zu sagen: 'Hört mal, Leute, das ist doch nicht wichtig, was wir hier
besprechen, es gibt doch viel Wichtigeres.'
Gibt
es
denn da keine Gleichgesinnten im
Dorf?
Doch, es gibt Gleichgesinnte, aber das sind meistens die "Tauben" im
Dorf (im Gegensatz zu den "Falken"). Es sind die musischen Menschen,
mit denen ich mich verbunden fühle, die Leute, die im Chor singen und
zum Volkstanz gehen.
Die anderen sind mir meistens fremder.
Bei uns gibt es die Musischen und die Technokraten, kann man so sagen.
(Lacht.)
Kannst
du
dir das richtig vorstellen, wie es
idealerweise sein könnte?
Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Halt wie in einer großen Familie
zu leben, wo es nicht unbedingt ohne Spannung sein muss, aber wo es
eine ständige Bereitschaft gibt, den anderen zu verstehen. Das ist
meiner Ansicht nach das wesentliche Kriterium: Ich bin bereit, den
anderen zu verstehen und akzeptiere, dass er anders ist.
Dazu gehört auch eine gewisse Art von "Benehmen". Dass man z.B. in
Versammlungen den anderen nicht das Wort abschneidet und glaubt, dass
man es besser weiß als die anderen.
Siehst
du
denn einen Weg, wie man da
weiterkommen könnte?
Ich habe konkrete Vorschläge gemacht, z.B. dass jeder Gelegenheit hat,
von sich zu erzählen, was ihm wichtig ist, was ihn im Inneren bewegt
und interessiert, was seine Ziele sind, wie seine finanzielle Situation
ist. Was ihn belastet, was ihn freut, sich ruhig Zeit nehmen einen
ganzen Abend für eine Person und möglichst bei dem im Haus, damit der
in seiner Umgebung ist und man schon an dem Haus sehen kann, was das
für ein Mensch ist.
Ich habe also solche konkreten Vorschläge gemacht, die Reaktion war
teilweise positiv, aber es resultiert einfach nichts daraus. Und da
muss man einfach stark sein, immer wieder am Ball bleiben. Und da ist
dann meine Schwäche, dass ich eben resigniere und sage, keiner
unterstützt mich.
Garten in sommerlicher Fülle
Ausblick
Hast
du
bestimmte Ziele für die nächsten
Jahre?
Die Ziele für das nächste Jahr sollen einem in der Zeit "ohne Zeit"
klar werden [in den Schriften von Vadim auch als "Zeit der
Zeitlosigkeit" bezeichnet, Anm. d. Red.], also zwischen dem 1. und 14.
Januar. Da geht man dann in sich. Ich würde das aber nicht laut
rumposaunen. Das ist was sehr Intimes.
Hat
sich
dein Verhältnis zur Lehre von
Vissarion durch dein Leben in der Gemeinschaft verändert?
Das Verhältnis zur Lehre würde ich so nicht sagen. Vielleicht eher das
Verhältnis zu den Brüdern und Schwestern, besonders zu meiner Frau. Es
wird ehrlicher.
Wie
ist
heute dein Verhältnis zur
Gemeinschaft?
Ich mache mit, so gut ich kann.
Fühlst
du
dich Vissarion in der Gemeinschaft
näher als z.B. in Deutschland?
Dass ich mich ihm innerlich näher fühle, kann ich so nicht sagen. Aber
die Möglichkeit, ihm praktische Fragen zu stellen, und die Antworten
mit den Brüdern und Schwestern zu erörtern, das ist in dieser
Intensität nur hier in der Gemeinschaft möglich.
Falls
unsere Leser noch weitere Fragen an
dich oder Louisa haben, dürfen wir uns dann nochmals an euch wenden?
Ja, gerne.
Ich
danke
dir für das Gespräch und für deine
Geduld und Offenheit.
Blick nach Süden über die herbstliche Taiga und das Dorf Guljáewka am
Ufer des Flusses Kasir
(Foto: C.B., 2009)
Dieses
Interview ist bei mehreren Treffen entstanden. Die Fragen wurden nicht
unbedingt in dieser Reihenfolge gestellt, sondern nachträglich
thematisch zusammengefasst. Daher resultieren auch gelegentliche
Sprünge und Überschneidungen.
Falls Sie weitere Fragen an Georg oder Louisa haben, können Sie diese
an uns schicken. Wir werden versuchen, Antworten zu bekommen und diese
hier einfügen. Wir freuen uns auf Ihre Fragen.
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