Ist Gottes Sohn wiedergekommen? - Reisebericht 2008

Der folgende Reisebericht wurde von Matthias Gerber verfasst. Er lebt in Winterthur/Schweiz und hat die Gemeinschaft im Frühjahr 2008 für drei Wochen besucht. Sein Erfahrungsbericht erschien in einer gekürzten Fassung auch in der Schweizer Zeitschrift "Magazin Spuren" www.spuren.ch.

 Transsibirische Eisenbahn: Frauen verkaufen Essen auf dem Bahnsteig
Transsibirische Eisenbahn: Frauen verkaufen Essen auf dem Bahnsteig

Im Verzeichnis von ökologisch orientierten Gemeinschaften "Eurotopia" war ich auf Ökopolis Tiberkul gestoßen - eine Gemeinschaft von um die fünftausend Menschen, die ein einfaches, von spirituellen Werten getragenes Leben im Einklang mit der Natur führen sollen. Als an gemeinschaftlichen Lebensformen Interessierter lockte es mich, dieses Projekt zu besuchen. Vieles sprach auch dagegen; ich spreche kein Russisch, und die meisten Menschen der Gemeinschaft stammen aus Russland und ehemaligen GUS-Staaten. Zudem bezeichnet sich Vissarion, der Gründer und spirituelle Lehrer dieses Projekts, als der wiedergeborene Gottessohn - und ich hatte bisher weder einen lebendigen, starken Bezug zum christlichen Gott und seinem Sohn gefunden, noch ein tiefes Verlangen zur Begegnung mit einem Guru verspürt. Ich hatte einige Texte und Gebote Vissarions, die auf der deutschen Homepage der Gemeinschaft veröffentlicht sind, gelesen; einige berührten mich, andere befremdeten. Ein Freund hatte mir einen Fachartikel aus einer deutschen theologischen Zeitschrift zukommen lassen, in dem alle gängigen Sektenvorwürfe bezogen auf Vissarion und seine Nachfolger benannt wurden. Doch dies alles konnte mich nicht mehr abhalten - der Entschluss war gefasst. Und zudem wusste ich bereits durch telefonische Voranfragen, dass ich als Folkmusiker in der Gemeinschaft Menschen aus verschiedensten Kulturen begegnen würde, von denen ich Lieder lernen konnte, aus Lettland, Russland, Ukraine, Tuwa, Chakassien und Kasachstan.

 Musikfestival in Tuwa
Musikfestival in Tuwa

Anreise
Auf der langen Hinreise in der Transsibirischen Eisenbahn - drei ganze Tage von Moskau nach Abakan - bin ich mit zwei liebenswerten alten Menschen im Abteil, die Frau wohl über 80. Wir verständigen uns mit vielen Gesten und der Hilfe eines Wörterbuches. Ich fühle mich sehr wohl mit den beiden. Als ich jedoch erwähne, dass ich nach Petropáwlowka fahre, bekreuzigt sich der Mann, sagt: "Satanistas", die Frau nickt zustimmend, und die Wagenschaffnerin zeigt sich doch sehr erleichtert, als sie hört, dass ich nur für drei Wochen dorthin fahre. Diese Menschen wohnen über fünfhundert Kilometer von der Gemeinschaft entfernt - und doch haben sie von ihr gehört.

 Das Gästehaus in Petropáwlowka
Das Gästehaus in Petropáwlowka

In Abakan werde ich von Pawel abgeholt, welcher mich in das 150 Kilometer entfernte Petropáwlowka fährt, das letzte Drittel der Strecke auf steiniger und holpriger Naturstraße. Kleine russische Holzhäuser, einfach gebaut, noch liegt einiger Schnee. Durch das Abtauen sind alle Straßen matschig. Zum Glück habe ich Gummistiefel dabei. Pawel bringt mich in ein kleines Gästehaus, welches von einer deutschen Frau für die Gemeinschaft gebaut wurde. Lena, eine russische Lettin, empfängt mich mit perfektem Französisch. Von meinem Zimmer aus sehe ich direkt den Haupttempel der Gemeinschaft, der in mehrjähriger Arbeit fast ohne Einsatz von Maschinen gebaut worden ist - märchenhaft sieht er aus. Ringsum bewaldete Hügel, in der Ferne einige langgezogene Schneeberge des fast unberührten Sajangebirges, das bis nach Tuwa und zum Baikalsee reicht.

 Blick zum Tempel
Blick vom Gästehaus über den Garten mit Klohäuschen zum Tempel

Bald nach meiner Ankunft hole ich einen Kessel Wasser im nahegelegenen, eiskalten Fluss. Außer bei starker Schneeschmelze hat das Wasser hier immer Trinkwasserqualität, obschon der Fluss hier bereits um die 200 Kilometer von der Quelle entfernt ist. Das äußere Leben wirkt wie auf einer Alp oder in einem Dorf vor hundert Jahren: Wasser aus dem Fluss holen oder es von Hand aus dem Grundwasser hochpumpen, Plumpsklos in kleinen Häuschen im Freien, Wasser zum Waschen oder für eine Dusche auf dem Holzherd erhitzen. Überall wird Holz gespalten, herrlich duftendes Birkenholz für die neun kalten Monate. Einige Häuser haben noch keine Elektrizität, und bei denjenigen, die sie haben, fällt sie öfters aus. Im Dorf sind kaum Autos unterwegs, dafür nicht wenige Pferde. Es hat zwei kleine Dorfläden. Bis vor zwei Jahren gab es im Dorf nur ein Telefon: jetzt ist die Gegend über das Handynetz erschlossen, über welches auch Internet und Mails abgerufen werden können. Aber nur wenige der Bewohner haben einen Computer.

 Der Fluss Kasir
Blick vom Gästehaus über den Garten zum Fluss Kasir

Singen über Grenzen hinaus
Schnell hat sich mein Besuch herumgesprochen. Schon am zweiten Abend werde ich von Swjeta und Larissa in ihre Großfamilie eingeladen. Beide sind Großmütter und begnadete Musikerinnen am Klavier, auf der Geige und mit Gesang. Und am Tag darauf kommt ein Mann auf mich zu und sagt in perfektem Französisch: "Wir sind aus einem anderen Dorf hergefahren, um dich zu treffen." Es sind Pascha, seine Frau und ihre Freundin Ira. Und bereits am Abend gibt es wieder gemeinsame Musik, französische Chansons von Pascha, russische Lieder und spirituelle Gesänge aus aller Welt, besonders aus Indien. Marina hat vor kurzem ein wunderschönes Lied geschaffen über einen Tempel der Liebe, den wir mit unseren Herzen gemeinsam aufbauen gegen Kälte und Missverständnisse in uns. Auch Priester Sergej und zwei junge Männer, Deki und Tomas aus Litauen, singen und spielen mit. Viel Freude, Herzlichkeit und Besinnlichkeit begegnen mir.

 Hausmusik
Hausmusik

Am Tag darauf besuche ich die Liturgie im Tempel, einem warmen, achteckigen, doch rund wirkenden Raum aus Holz, mit vielen schmückenden Schnitzereien, schlicht eingerichtet, als Licht brennende Kerzen, beim Altar ein Foto von Vissarion. Priester Sergej, früher ein hoher Militär, hat in der Gemeinschaft vor bald 15 Jahren seine für ihn neue Aufgabe übernommen. Ruhig richtet er einige Worte an die um die hundert Anwesenden, spricht ein Gebet, bevor eine lange Phase nur mit Liedern folgt. Die meisten haben er selbst und andere Menschen aus der Gemeinschaft geschaffen; sie handeln von der Dankbarkeit für das Leben, dem Wunder unserer Existenz und der Verbundenheit mit Gott - durchwegs getragene, sanfte Gesänge mit mehreren Stimmen. Sie wirken wie Gebete und erlauben mir, mich zu entspannen, einfach zu sein.

 Liturgie im Tempel
Liturgie im Tempel

Das Letzte Testament
Uscha, eine 60-jährige warmherzige deutsche Frau, bringt mir ins Deutsche übersetzte Texte aus dem Letzten Testament. Sie lebt seit über fünf Jahren vorwiegend hier in der Gemeinschaft. Für sie war die erste Begegnung mit Vissarion 1998 auf einer seiner drei Deutschlandreisen sehr eindrücklich und kam überraschend. Sie, die vorher viele verschiedene spirituelle Wege gegangen war, spürte innerlich, mit ihrem Herzen - während Vissarion die Fragen von Menschen beantwortete - nur noch den tiefen Wunsch "Segne mich!". Und in der darauffolgenden Nacht hatte sie intensive Bilder von Licht, das aus Vissarions Augen leuchtete. Uscha hat während mehrerer Jahre das kleine Gästehaus in Petropáwlowka betreut, wo ich jetzt wohne. Sie versteht und spricht inzwischen gut Russisch, ist aber doch froh um den regelmäßigen Kontakt mit den zehn weiteren Deutschen, die fest in der Gemeinschaft leben. In ihrem einfachen, aber liebevoll eingerichteten Zimmerchen sehen wir uns auf DVD das Treffen mit Vissarion an, das so prägend für ihr Leben sein sollte. Ernsthaft, ruhig und klar gibt der spirituelle Lehrer Antwort auf die Fragen der hauptsächlich deutsch-russischen Zuhörerschaft. So bezeichnet er Geld als ein Instrument der Finsternis, um Menschen manipulieren zu können: "Ihr tut alles, um Geld zu verdienen. Anstelle Schöpfer zu sein, seid ihr Verkäufer geworden." Er plädiert dafür, auf der Erde ein neues System zu schaffen, das uns von der Herrschaft des Geldes befreit. Nie soll man Geld ausleihen, nur schenken.

 Jugendliche bei einer musikalischen Darbietung
Jugendliche bei einer musikalischen Darbietung

Ich vertiefe mich in die Texte von und über Vissarion, denn ich will mehr über den Hintergrund der Gemeinschaft erfahren. Immer wieder finde ich darin Grundhaltungen, die mich ansprechen. (Im Folgenden sind Zitate aus dem Letzten Testament kursiv geschrieben.) "Die Hauptform der geistigen Entwicklung ist das Leben selbst, in dessen schwierigen Erscheinungsformen der Mensch seine Unterrichtsstunden und Prüfungen bestehen muss."

Jeden Morgen findet ein Austausch statt, das "Treffen des einigenden Verständnisses", wo die Menschen ihre persönlichen Fragen, Anliegen und Probleme einbringen und miteinander besprechen. Die Gesprächsleitung wird jedes Mal neu bestimmt. Als Leitlinie dienen die Texte des Letzten Testaments. Und da sind viele herausfordernde Alltagsaufgaben formuliert, z.B. sich nie besser oder größer zu fühlen als jemand anderes, bedingungslos Wärme und Liebe zu schenken, sogar wenn mir jemand unfreundlich oder aggressiv begegnet, und schlechte Gefühle jemandem gegenüber möglichst umgehend zu wandeln, innerlich oder über ein klärendes Gespräch. "Beleidige den Beleidigenden nicht, denn du wärest seinem Wesen ähnlich. Entgegne nie der auf dich zukommenden Kälte mit ebensolcher, welchen Schmerz sie dir auch bereiten möge." oder: "Lass nie jemanden über die Gedanken eines anderen Menschen lachen, seien sie noch so verrückt, sondern lass ihn sie bedenken."

 Tanzaufführung bei einem Fest
Tanzaufführung bei einem Fest    (Foto: C.B.)

Liebe und Harmonie
Ich selbst erlebe im Umfeld der Gemeinschaft bei mir eine erhöhte Sensibilität gegenüber diesen Grundsätzen. Es ist, als würde dieses Feld mir meine Schwächen stärker bewusst machen. Ich fühle mich manchmal von Lena, die das Gästehaus betreut, etwas harsch oder unfreundlich behandelt und beginne, ihr gegenüber schlechte Gefühle zu haben. Ich spreche sie nicht gleich an. Meine fehlende Direktheit tritt offen zutage, als ich nach einigen Tagen im Gespräch alles auf gute Weise ansprechen und klären kann. Kleinste Ansätze von Be- und Verurteilen anderer Menschen oder von persönlicher Überheblichkeit werden mir sofort klar störend bewusst. Und einmal in der Liturgie spüre ich mich auf so angenehme Weise als ganz mich unter all den anderen, ohne kleinste bewertende Haltung oder ablenkende Gedanken. "Ob du fähig bist, Liebe und Harmonie zu leben, zeigt sich in schwierigen Situationen, nicht in leichten."

"Die Freiheit des Menschen kann nicht angetastet werden." Der freie Willen des Einzelnen ist zentral, und es ist nicht angebracht, jemand anderen wegen seiner Entscheidungen zu verurteilen, sogar wenn er gegen Gebote des "Letzten Testaments" verstößt. Ich kann nachfragen, weshalb er so handelt, mehr nicht. Statt sich auf Schwächen und Fehler anderer zu konzentrieren, ist jeder vielmehr aufgerufen, die Verantwortung für seine eigenen Handlungen und Schritte zu tragen. Dass dieser Grundsatz hochgehalten wird, spüre ich immer wieder, mir gegenüber und aus vielen Gesprächen über das Gemeinschaftsleben. Dass ich Vissarion nicht als einzigen Gottessohn mit der 'höchsten Wahrheit' annehme, das Ganze sogar kritisch hinterfrage, wird problemlos respektiert. Ich spüre nie auch nur Ansätze von missionarischen Haltungen. Das ist angenehm.

 Kunstvolles Sitzmöbel
Kunstvolles Sitzmöbel

Holz, das leuchtet
Hochgehalten wird das konkrete Arbeiten mit den Händen. In drei Monaten Sommer müssen Gemüse und Getreide für das ganze Jahr gepflanzt und geerntet, auch Beeren und Pilze gesammelt und eingemacht werden. Und das Handwerk wird hochgehalten. Priester Sergej äussert sich in einem Interview von vor einigen Jahren so: "Wenn wir auf die Erde kommen, ist die Hauptsache, dass wir die Möglichkeit haben, Schöpfer zu sein, Schöpfer des Guten, der Liebe, geistig-seelischer Bekundungen (...) Wenn wir die Fähigkeit haben, mit Holz zu arbeiten, so sind wir bestrebt, dass es die Wärme unserer Hände spürt. Und danach entstehen dann die hellen, goldenfarbenen Häuser. Ist das Holz sorgfältig bearbeitet worden, beginnt es zu leuchten. Es entstehen Lebensgegenstände, und die haben nun eine ganz andere Bedeutung, Abstufung, Schönheit. Das Wichtigste ist, dass wir dabei unsere Seele schenken können, sie trainieren, Wärme und Güte zu geben, und lernen können, Schönes und Herrliches zu schaffen. Ohne diese Erfülltheit hat es keinen Sinn zu arbeiten."

 Der Töpfer Jura
Der Töpfer Jura

Und ich begegne in den drei Wochen vielen Handwerksleuten, die oft erst in der Gemeinschaft ihr Handwerk erlernt und entwickelt haben, nachdem sie in der Welt draußen ganz andere Berufe hatten. Oleg, früher Jurist in einer großen russischen Stadt, führt seit Jahren eine Töpferwerkstatt, Alek, ehemaliger Geschäftsmann aus Moldawien, erschafft einzigartige Möbel aus Holzstücken, die er im Wald sammelt. Sascha aus Sachalin war Seemann und Hochseefischer, bevor er in der Gemeinschaft zum Bienenzüchter wurde. Es gibt viele weitere Werkstätten wie Korbflechterei, Näh- und Kleiderateliers, Schmiedewerkstatt, Holzschnitzerei, Fichtenbalsamproduktion. Auch viele Künstler aus allen Sparten haben sich in der Gemeinschaft angesiedelt oder hier mit ihrem Kunstschaffen begonnen. Zudem bauen viele ihre Häuser selbst.

 Haus
Produktionsstätte für Fichtenbalsam

Ebenso wichtig wie die Arbeit ist das Unterbrechen derselben für Gebet und Besinnung. Mehrmals am Tag rufen die von Hand gespielten Glocken im Turm des Gemeinschaftshauses auf, innezuhalten und sich mit Gott zu verbinden.

 Glocke
Glockenturm

"Der Mensch sollte von Informationsanhäufungen lassen, den unendlichen Versuchen, alles erkennen zu wollen. Jetzt muss man zum Kind werden, man muss lernen, der Erde beim Gehen Wärme zu schenken, mit den Blumen zu sprechen und mit den Wolken und dem Wind mitzufliegen." In den eigenen Schulen und Kindergärten, die von engagierten Menschen aus der Gemeinschaft oft unentgeltlich oder zu eher symbolischem Lohn aufgebaut und betrieben werden, steht weniger die kognitive Wissensvermittlung im Zentrum als künstlerisches, kreatives Tun und soziales, spirituelles Lernen. Kinder werden unterstützt, das zu finden und näher zu erforschen, was sie von Herzen packt. Und so wirken die Schulen und die Kinder denn auch sehr lebendig. Periodisch müssen die Kinder Prüfungen im Stoff der Staatsschulen ablegen, wo sie meist gut abschneiden.

 Karussel in Shárowsk
Karussel in Shárowsk (mit Muskelkraft betrieben)

Vissarion lehrt, dass in unserer Wendezeit viele besondere Kinder geboren werden, die seelisch weit vorangeschritten sind, und dass es darum gehe, sie nicht mit dem Informationsmüll unserer zivilisierten und wissenschaftlichen Welt vollzustopfen, sondern ihren Seelen Raum für ihre Vorstellungskraft zu geben. Bücher und Lehrmittel sollen primär positive, sinnstiftende Inhalte haben. Mädchen und Knaben haben nach dem Kindergarten getrennte Schulen.

Im Kindergarten treffe ich Ilona, eine sonnige junge Frau aus Litauen, die mir mit Volksliedtexten aus ihrem Land hilft. Bei ihr genügten bereits Fotos von Vissarion und der Gemeinschaft, um zu spüren, dass dies der richtige Ort für sie sein würde. Und sie hat ihre Entscheidung, hierher zu ziehen, nie bereut. Sie strahlt, als sie sagt, dass sie eben geheiratet habe, einen Mann aus der Ukraine.

 Kinder beim Spielen
Kinder beim Spielen

Begierden wandeln
Es gibt in Vissarions Lehre auch Ansichten, die mich zum Teil befremden. Männern und Frauen werden recht klare Rollen zugedacht. Die Frau als Wesen der Natur ist für Haus und Garten zuständig. Der Mann als Wesen des Geistes ist aufgefordert, durch das Werk seiner Hände Schönes in die Welt zu bringen und für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Zusammen bilden sie als Paar den Kern der Familie mit Kindern, die sehr hohen Stellenwert hat. Besonders der Mann ist aufgerufen, seine körperlichen Begierden zu zügeln und zu wandeln. Sexuelles Zusammensein soll nur in der Ehe stattfinden. Bevor ein Mann und eine Frau sexuell zusammenkommen, sollen sie sich von ihren Herzen her begegnen und sich als Freunde erleben. Dies alles nur kurz zusammengefasst, wie ich es verstanden habe. Diese Grundhaltungen lösen bei mir ein eigenes Gemisch von Zustimmung und Widerspruch aus. Als Gast war es für mich eine schöne Erfahrung, dass ich alle Kontakte mit Frauen stark von der Herzensebene her erlebte und das Sexuelle außen vor blieb.

 Bei einem Fest
Bei einem Fest

Fast alle Menschen in der Gemeinschaft glauben fest daran, dass Vissarion der seit 2000 Jahren zum ersten Mal wiedergesandte Sohn Gottes ist - und dass er und seine Weisheit dadurch der direkte Ausdruck des liebenden Wissens des Himmlischen Vaters sind. Dadurch akzeptieren sie auch, dass sich seine aus einer anderen Dimension kommenden Worte nicht immer mit unserem Verstand begreifen lassen, sondern eher mit unserem Herzen, unserer Seele, in der wir alle selbst einen Funken jenes göttlichen Lichtes tragen. Vissarion distanziert sich davon, Wunder und unerklärliche Heilungen zu wirken, damit die Menschen ihm nicht beeindruckt von Wundern folgen, sondern aus ihrem Herzen heraus und in freiem Willen.
Zuerst nannte sich Vissarions Gemeinschaft "Kirche der einheitlichen Religion", mit dem Verständnis, dass in allen bisherigen spirituellen Kulturen von erdverbundenen Traditionen über Buddhismus, Taoismus, Christentum und Islam wichtige Qualitäten enthalten waren, sie aber nie die ganze Wahrheit umfassten oder diese verzerrten. Vissarion fühlt sich berufen, alle Religionen und geistigen Lehren zu einer Religion der All-Einigkeit zu vereinen. Ein hoher und für meinen Verstand auch anmaßend wirkender Anspruch.

 Pferdefuhrwerk bei Flussdurchquerung
Pferdefuhrwerk bei Flussdurchquerung

Schließlich bringt mich die Lektüre des Letzten Testaments in innere Nöte. Es gibt immer wieder Stellen, die mir richtig aufstoßen, wenn Gottessohn Vissarion seine Lehre als höchste und reinste Wahrheit darstellt und zu denen, die ihr folgen, meint: "Es werden jene Erwählten sein, denen es gegeben ist, voranzugehen und den anderen den Weg zu erleuchten, jene, in die Gott die letzte Hoffnung setzt, das Menschengeschlecht zu retten."

Da gibt es auch viele Stellen, die in für mich altbiblisch anmutender Sprache vom Guten Gottes und dem Bösen des Teufels sprechen. Und da ist immer wieder die Betonung der Unfehlbarkeit der Worte des Gottessohnes und der Notwendigkeit für die Gläubigen, dem Gottessohn uneingeschränkt zu vertrauen, um ihn nicht zu 'erniedrigen'. Gegen all das regt sich in mir großer Widerstand. Mein innerer Konflikt wird verstärkt durch all die guten, berührenden Erlebnisse und Begegnungen mit den Nachfolgern Vissarions, von denen ich die meisten als intelligente, lebensfreudige, echt suchende und liebende Menschen erlebe - ein herausforderndes Kontrastprogramm.
Ich ringe innerlich. Für mich mag sein, dass Vissarion erleuchtet ist - aber gibt es heutzutage nicht vielleicht mehrere hundert Erleuchtete in verschiedenen Kulturen, die ihre Liebe und ihr Wissen in größerem oder kleinerem Rahmen nach außen tragen? Wie kann sich da einer anmaßen, das absolute höchste und letzte Wissen zu haben!?

 Handwerker in ihrer Werkstatt
Handwerker in ihrer Werkstatt

In der letzten Woche finde ich meinen inneren Frieden wieder. Viele offene Gespräche, wo ich meine Zweifel und Widerstände benenne, auch im Gespräch mit Priester Sergej, lassen in mir langsam eine Gelassenheit all dem gegenüber entstehen. Man lässt mir meine Gedanken, meine Freiheit zu denken und wahrzunehmen. Vissarion selbst zu treffen, hatte ich nie den Wunsch verspürt. Es wäre wohl auch schwierig gewesen, weil er weitab auf dem 'Berg' in der 'heiligen Stadt' lebt, die im Frühling nur sehr schwer zu erreichen ist. Und ob Vissarion nun wirklich der Gottessohn ist oder nicht, beschäftigt mich auch nicht weiter.

 Der Priester Sergej
Der Priester Sergej

Abschied
Ich genieße die warmherzigen Begegnungen, bin dankbar für die Inspirationen und anregenden Gedanken zu Leben, Liebe und Gemeinschaft, die mir mein Besuch in Ökopolis schenkt. Und ich genieße das große Frühlingsfest mit all den auf schlammigem Boden im Kreis tanzenden und singenden Menschen in ihren farbigen Gewändern, den Volkstanzdarbietungen von Erwachsenen und Kindern, die nur so von Energie sprühen. Ich stehe selbst zweimal mit meiner Geige auf der Bühne, weil ich ganz spontan in Darbietungen einbezogen werde. Das Frühlingsfeuer, entfacht mit den ewig brennenden Lichtern der einzelnen Dorfgemeinschaften, bringt Wärme und Lebensfreude. Später berührende Abschiede von den mir liebgewordenen Menschen: "Come back, you are wonderful, we wait for you." In den USA würde ich das alles als wohl etwas oberflächlich abtun, hier berührt es mich. Ich habe schon einige Gemeinschaften besucht, so vom Herzen her angenommen habe ich mich noch nie gefühlt.

 Straße
Straße im Gebiet der Gemeinschaft

Träumen ist erlaubt
Auf holpriger Naturstrasse rattere ich in einem alten Bus nach Abakan. Die Gedanken sind noch in der Gemeinschaft. Selten habe ich so viele schöne Menschen gesehen, offen, freundlich, fröhlich und hilfsbereit. Ich bewundere ihre Entschlossenheit und Kraft, ein so einfaches, naturverbundenes, arbeitsintensives Leben in hartem Klima zu führen. Näher zur Stadt säumen immer mehr übergroße Werbeplakate für Konsumprodukte die Straße. In Abakan bin ich wieder im Lärm der Stadt, im Verkehr, die Luft ist stickig. Nicht wenige Menschen wirken auf mich verloren. Neben einigen fröhlichen Gesichtern flanieren Eitelkeiten und Masken auf den Trottoirs. Im Hotelzimmer zappe ich kurz durchs Fernsehprogramm: Gewalt, Konflikt, oberflächlicher Spaß, Unterhaltung und Werbung für unnötige Produkte. Nur abschalten! Ich strecke mich auf dem Bett aus, und in mir summe ich das französische Lied, das ich von Pascha gelernt habe:

Tu n'as pas de titre ni de grade,
mais tu dis tu quand tu parles a Dieu,
je viens te chanter la ballade,
la ballade des gens heureux.

Du hast keinen Titel oder besonderen Grad,
Aber du bist per Du mit Gott,
Ich singe dir die Ballade,
die Ballade der glücklichen Menschen.

Und ich träume von einer spirituell orientierten Gemeinschaft mit den Qualitäten von Ökopolis ohne einen so prägenden spirituellen Lehrer. Träumen ist erlaubt!

 


Der Autor Matthias Gerber beim Musizieren

Über den Autor:
Matthias Gerber spielt Geige und singt im Folkduo Duenda. Zusammen mit seiner Lebenspartnerin Karin Jana Beck - gemeinsam als Duenda unterwegs - hat er zwei Doppel-CDs mit Volks- und Kraftliedern aus verschiedenen Kulturen herausgegeben (SiyaBonga, Saravá). Er ist ein leidenschaftlicher Sammler von Folk-, Ethno- und Weltmusik. Er hat Konzerttournéen mit Romamusikern aus Ungarn und der Slowakei organisiert und schreibt regelmässig für das Magazin Spuren im Bereich Klangwelt. Er ist Mitinitiator des Schweizer Projekts "StimmVolk". www.tschatscho.ch / www.stimmvolk.ch
Neben seiner Tätigkeit als Musiker leitet er Männergruppen und engagiert sich seit vielen Jahren in Männerfragen. Langjährige Aus- und Weiterbildungen in Kunst- und Ausdruckstherapie M.A., Transaktionsanalyse, in schamanischer Arbeit, Männerarbeit sowie in Stimmarbeit und Ritualgestaltung.

Anmerkung:
Die Fotos stammen nicht vom Autor selbst. Sie wurden aus dem Fundus des Vereins zur Illustration hinzugefügt.