Der folgende Reisebericht wurde von Matthias Gerber verfasst. Er lebt in Winterthur/Schweiz und hat die Gemeinschaft im Frühjahr 2008 für drei Wochen besucht. Sein Erfahrungsbericht erschien in einer gekürzten Fassung auch in der Schweizer Zeitschrift "Magazin Spuren" www.spuren.ch.
Im Verzeichnis von ökologisch orientierten Gemeinschaften "Eurotopia" war ich auf Ökopolis Tiberkul gestoßen - eine Gemeinschaft von um die fünftausend Menschen, die ein einfaches, von spirituellen Werten getragenes Leben im Einklang mit der Natur führen sollen. Als an gemeinschaftlichen Lebensformen Interessierter lockte es mich, dieses Projekt zu besuchen. Vieles sprach auch dagegen; ich spreche kein Russisch, und die meisten Menschen der Gemeinschaft stammen aus Russland und ehemaligen GUS-Staaten. Zudem bezeichnet sich Vissarion, der Gründer und spirituelle Lehrer dieses Projekts, als der wiedergeborene Gottessohn - und ich hatte bisher weder einen lebendigen, starken Bezug zum christlichen Gott und seinem Sohn gefunden, noch ein tiefes Verlangen zur Begegnung mit einem Guru verspürt. Ich hatte einige Texte und Gebote Vissarions, die auf der deutschen Homepage der Gemeinschaft veröffentlicht sind, gelesen; einige berührten mich, andere befremdeten. Ein Freund hatte mir einen Fachartikel aus einer deutschen theologischen Zeitschrift zukommen lassen, in dem alle gängigen Sektenvorwürfe bezogen auf Vissarion und seine Nachfolger benannt wurden. Doch dies alles konnte mich nicht mehr abhalten - der Entschluss war gefasst. Und zudem wusste ich bereits durch telefonische Voranfragen, dass ich als Folkmusiker in der Gemeinschaft Menschen aus verschiedensten Kulturen begegnen würde, von denen ich Lieder lernen konnte, aus Lettland, Russland, Ukraine, Tuwa, Chakassien und Kasachstan.
Anreise
In Abakan werde ich von Pawel abgeholt, welcher mich in das 150 Kilometer entfernte Petropáwlowka fährt, das letzte Drittel der Strecke auf steiniger und holpriger Naturstraße. Kleine russische Holzhäuser, einfach gebaut, noch liegt einiger Schnee. Durch das Abtauen sind alle Straßen matschig. Zum Glück habe ich Gummistiefel dabei. Pawel bringt mich in ein kleines Gästehaus, welches von einer deutschen Frau für die Gemeinschaft gebaut wurde. Lena, eine russische Lettin, empfängt mich mit perfektem Französisch. Von meinem Zimmer aus sehe ich direkt den Haupttempel der Gemeinschaft, der in mehrjähriger Arbeit fast ohne Einsatz von Maschinen gebaut worden ist - märchenhaft sieht er aus. Ringsum bewaldete Hügel, in der Ferne einige langgezogene Schneeberge des fast unberührten Sajangebirges, das bis nach Tuwa und zum Baikalsee reicht.
Bald nach meiner Ankunft hole ich einen Kessel Wasser im nahegelegenen, eiskalten Fluss. Außer bei starker Schneeschmelze hat das Wasser hier immer Trinkwasserqualität, obschon der Fluss hier bereits um die 200 Kilometer von der Quelle entfernt ist. Das äußere Leben wirkt wie auf einer Alp oder in einem Dorf vor hundert Jahren: Wasser aus dem Fluss holen oder es von Hand aus dem Grundwasser hochpumpen, Plumpsklos in kleinen Häuschen im Freien, Wasser zum Waschen oder für eine Dusche auf dem Holzherd erhitzen. Überall wird Holz gespalten, herrlich duftendes Birkenholz für die neun kalten Monate. Einige Häuser haben noch keine Elektrizität, und bei denjenigen, die sie haben, fällt sie öfters aus. Im Dorf sind kaum Autos unterwegs, dafür nicht wenige Pferde. Es hat zwei kleine Dorfläden. Bis vor zwei Jahren gab es im Dorf nur ein Telefon: jetzt ist die Gegend über das Handynetz erschlossen, über welches auch Internet und Mails abgerufen werden können. Aber nur wenige der Bewohner haben einen Computer.
Singen über Grenzen hinaus
Am Tag darauf besuche ich die Liturgie im Tempel, einem warmen, achteckigen, doch rund wirkenden Raum aus Holz, mit vielen schmückenden Schnitzereien, schlicht eingerichtet, als Licht brennende Kerzen, beim Altar ein Foto von Vissarion. Priester Sergej, früher ein hoher Militär, hat in der Gemeinschaft vor bald 15 Jahren seine für ihn neue Aufgabe übernommen. Ruhig richtet er einige Worte an die um die hundert Anwesenden, spricht ein Gebet, bevor eine lange Phase nur mit Liedern folgt. Die meisten haben er selbst und andere Menschen aus der Gemeinschaft geschaffen; sie handeln von der Dankbarkeit für das Leben, dem Wunder unserer Existenz und der Verbundenheit mit Gott - durchwegs getragene, sanfte Gesänge mit mehreren Stimmen. Sie wirken wie Gebete und erlauben mir, mich zu entspannen, einfach zu sein.
Das Letzte Testament
Ich vertiefe mich in die Texte von und über Vissarion, denn ich will mehr über den Hintergrund der Gemeinschaft erfahren. Immer wieder finde ich darin Grundhaltungen, die mich ansprechen. (Im Folgenden sind Zitate aus dem Letzten Testament kursiv geschrieben.) "Die Hauptform der geistigen Entwicklung ist das Leben selbst, in dessen schwierigen Erscheinungsformen der Mensch seine Unterrichtsstunden und Prüfungen bestehen muss." Jeden Morgen findet ein Austausch statt, das "Treffen des einigenden Verständnisses", wo die Menschen ihre persönlichen Fragen, Anliegen und Probleme einbringen und miteinander besprechen. Die Gesprächsleitung wird jedes Mal neu bestimmt. Als Leitlinie dienen die Texte des Letzten Testaments. Und da sind viele herausfordernde Alltagsaufgaben formuliert, z.B. sich nie besser oder größer zu fühlen als jemand anderes, bedingungslos Wärme und Liebe zu schenken, sogar wenn mir jemand unfreundlich oder aggressiv begegnet, und schlechte Gefühle jemandem gegenüber möglichst umgehend zu wandeln, innerlich oder über ein klärendes Gespräch. "Beleidige den Beleidigenden nicht, denn du wärest seinem Wesen ähnlich. Entgegne nie der auf dich zukommenden Kälte mit ebensolcher, welchen Schmerz sie dir auch bereiten möge." oder: "Lass nie jemanden über die Gedanken eines anderen Menschen lachen, seien sie noch so verrückt, sondern lass ihn sie bedenken."
Liebe und Harmonie "Die Freiheit des Menschen kann nicht angetastet werden." Der freie Willen des Einzelnen ist zentral, und es ist nicht angebracht, jemand anderen wegen seiner Entscheidungen zu verurteilen, sogar wenn er gegen Gebote des "Letzten Testaments" verstößt. Ich kann nachfragen, weshalb er so handelt, mehr nicht. Statt sich auf Schwächen und Fehler anderer zu konzentrieren, ist jeder vielmehr aufgerufen, die Verantwortung für seine eigenen Handlungen und Schritte zu tragen. Dass dieser Grundsatz hochgehalten wird, spüre ich immer wieder, mir gegenüber und aus vielen Gesprächen über das Gemeinschaftsleben. Dass ich Vissarion nicht als einzigen Gottessohn mit der 'höchsten Wahrheit' annehme, das Ganze sogar kritisch hinterfrage, wird problemlos respektiert. Ich spüre nie auch nur Ansätze von missionarischen Haltungen. Das ist angenehm.
Holz, das leuchtet
Und ich begegne in den drei Wochen vielen Handwerksleuten, die oft erst in der Gemeinschaft ihr Handwerk erlernt und entwickelt haben, nachdem sie in der Welt draußen ganz andere Berufe hatten. Oleg, früher Jurist in einer großen russischen Stadt, führt seit Jahren eine Töpferwerkstatt, Alek, ehemaliger Geschäftsmann aus Moldawien, erschafft einzigartige Möbel aus Holzstücken, die er im Wald sammelt. Sascha aus Sachalin war Seemann und Hochseefischer, bevor er in der Gemeinschaft zum Bienenzüchter wurde. Es gibt viele weitere Werkstätten wie Korbflechterei, Näh- und Kleiderateliers, Schmiedewerkstatt, Holzschnitzerei, Fichtenbalsamproduktion. Auch viele Künstler aus allen Sparten haben sich in der Gemeinschaft angesiedelt oder hier mit ihrem Kunstschaffen begonnen. Zudem bauen viele ihre Häuser selbst.
Ebenso wichtig wie die Arbeit ist das Unterbrechen derselben für Gebet und Besinnung. Mehrmals am Tag rufen die von Hand gespielten Glocken im Turm des Gemeinschaftshauses auf, innezuhalten und sich mit Gott zu verbinden.
"Der Mensch sollte von Informationsanhäufungen lassen, den unendlichen Versuchen, alles erkennen zu wollen. Jetzt muss man zum Kind werden, man muss lernen, der Erde beim Gehen Wärme zu schenken, mit den Blumen zu sprechen und mit den Wolken und dem Wind mitzufliegen." In den eigenen Schulen und Kindergärten, die von engagierten Menschen aus der Gemeinschaft oft unentgeltlich oder zu eher symbolischem Lohn aufgebaut und betrieben werden, steht weniger die kognitive Wissensvermittlung im Zentrum als künstlerisches, kreatives Tun und soziales, spirituelles Lernen. Kinder werden unterstützt, das zu finden und näher zu erforschen, was sie von Herzen packt. Und so wirken die Schulen und die Kinder denn auch sehr lebendig. Periodisch müssen die Kinder Prüfungen im Stoff der Staatsschulen ablegen, wo sie meist gut abschneiden.
Vissarion lehrt, dass in unserer Wendezeit viele besondere Kinder geboren werden, die seelisch weit vorangeschritten sind, und dass es darum gehe, sie nicht mit dem Informationsmüll unserer zivilisierten und wissenschaftlichen Welt vollzustopfen, sondern ihren Seelen Raum für ihre Vorstellungskraft zu geben. Bücher und Lehrmittel sollen primär positive, sinnstiftende Inhalte haben. Mädchen und Knaben haben nach dem Kindergarten getrennte Schulen. Im Kindergarten treffe ich Ilona, eine sonnige junge Frau aus Litauen, die mir mit Volksliedtexten aus ihrem Land hilft. Bei ihr genügten bereits Fotos von Vissarion und der Gemeinschaft, um zu spüren, dass dies der richtige Ort für sie sein würde. Und sie hat ihre Entscheidung, hierher zu ziehen, nie bereut. Sie strahlt, als sie sagt, dass sie eben geheiratet habe, einen Mann aus der Ukraine.
Begierden wandeln
Fast
alle
Menschen in der Gemeinschaft glauben fest daran, dass Vissarion der
seit 2000 Jahren zum ersten Mal wiedergesandte Sohn Gottes ist - und
dass er und seine Weisheit dadurch der direkte Ausdruck des liebenden
Wissens des Himmlischen Vaters sind. Dadurch akzeptieren sie auch, dass
sich seine aus einer anderen Dimension kommenden Worte nicht immer mit
unserem Verstand begreifen lassen, sondern eher mit unserem Herzen,
unserer Seele, in der wir alle selbst einen Funken jenes göttlichen
Lichtes tragen. Vissarion distanziert sich davon, Wunder und
unerklärliche Heilungen zu wirken, damit die Menschen ihm nicht
beeindruckt von Wundern folgen, sondern aus ihrem Herzen heraus und in
freiem Willen.
Schließlich bringt mich die Lektüre des Letzten Testaments in innere Nöte. Es gibt immer wieder Stellen, die mir richtig aufstoßen, wenn Gottessohn Vissarion seine Lehre als höchste und reinste Wahrheit darstellt und zu denen, die ihr folgen, meint: "Es werden jene Erwählten sein, denen es gegeben ist, voranzugehen und den anderen den Weg zu erleuchten, jene, in die Gott die letzte Hoffnung setzt, das Menschengeschlecht zu retten." Da gibt
es
auch viele Stellen, die in für mich altbiblisch anmutender Sprache vom
Guten Gottes und dem Bösen des Teufels sprechen. Und da ist immer
wieder die Betonung der Unfehlbarkeit der Worte des Gottessohnes und
der Notwendigkeit für die Gläubigen, dem Gottessohn uneingeschränkt zu
vertrauen, um ihn nicht zu 'erniedrigen'. Gegen all das regt sich in
mir großer Widerstand. Mein innerer Konflikt wird verstärkt durch all
die guten, berührenden Erlebnisse und Begegnungen mit den Nachfolgern
Vissarions, von denen ich die meisten als intelligente, lebensfreudige,
echt suchende und liebende Menschen erlebe - ein herausforderndes
Kontrastprogramm.
In der letzten Woche finde ich meinen inneren Frieden wieder. Viele offene Gespräche, wo ich meine Zweifel und Widerstände benenne, auch im Gespräch mit Priester Sergej, lassen in mir langsam eine Gelassenheit all dem gegenüber entstehen. Man lässt mir meine Gedanken, meine Freiheit zu denken und wahrzunehmen. Vissarion selbst zu treffen, hatte ich nie den Wunsch verspürt. Es wäre wohl auch schwierig gewesen, weil er weitab auf dem 'Berg' in der 'heiligen Stadt' lebt, die im Frühling nur sehr schwer zu erreichen ist. Und ob Vissarion nun wirklich der Gottessohn ist oder nicht, beschäftigt mich auch nicht weiter.
Abschied
Träumen ist erlaubt Tu n'as pas de titre ni de grade, Du hast keinen Titel oder besonderen Grad,
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