Vadim 4

«

  Kapitel 27  

»

Barcelona ~ Treffen mit dem russischen Generalkonsul

1. Am Morgen des 30. Mai 1994 brachte ein Zug die Reisenden nach Barcelona.

2. Vom Bahnhof aus riefen sie Doktor Bersche an, den Präsidenten der spanischen Abteilung der Organisation "Euroatlant", der sich mit der Schaffung eines Bildungssystems und von Schulen für begabte Kinder beschäftigte.

3. Im Telefongespräch sagte Doktor Bersche zu Walerij, dass er am Abend die Gäste in seinem Büro erwarte. Jetzt aber erwarte sie erst einmal ein Hotel der höchsten Klasse, das sogar über Panzertüren verfüge.

4. Der Aufenthalt in so einem Quartier versprach jedoch auch hohe, unvorhergesehene Kosten.

5. Die Schüler beschlossen, ein einfacheres Hotel zu suchen und mit einem Telefonanruf Dr. Bersche über ihr Ablehnen des teuren Hotels zu informieren.

6. Walerij aber war mit diesem Beschluss nicht einverstanden und erklärte, dass es in der Gesellschaft bestimmte Verhaltensregeln gäbe, deren Nichteinhaltung eine Anstands- und Taktlosigkeit bedeute, und dass, selbst wenn das Hotel für sie zu teuer sei, man deshalb nicht unbedingt Doktor Bersche informieren und ihm ihre Mittellosigkeit zeigen müsse. Dieser habe nur das aus seiner Sicht bequemste Hotel gebucht.

7. "Er hat schließlich das Hotel nach seinen Vorstellungen reservieren lassen, nicht nach unseren. Und er hat es aus diesem selben weltlichen Anstand getan. Gehen wir zum Lehrer", sagte Vadim.

8. Und Vissarion antwortete, die Schüler sollten so handeln, wie sie es für richtig hielten.

9. Und dass Verhaltensregeln dann gut seien, wenn sie der Stimme des Herzens entsprächen.

10. Im entgegengesetzten Fall solle der Rahmen des Benehmens der kranken Gesellschaft auch bei dieser Gesellschaft verbleiben.

11. Walerij zuckte mit den Schultern und informierte Doktor Bersche telefonisch über den Beschluss, das Hotel zu wechseln.

12. Bereits im Hotel, im Gespräch über das Vorgefallene, sagte Vissarion zu Wladimir: "Walerij ist vorerst noch kein Schüler. Ihm steht jetzt erst bevor, vieles zu verstehen und aufmerksam das Geschehen zu beobachten. Die Schüler aber müssen wachsam sein!"


13. Und etwas später, unter vier Augen mit Vadim, erzählte der Lehrer über das Sakrament des Schülers und des Anhängers.

14. "Ein Schüler ist jemand, der am vollständigsten bestrebt ist, die Lehre zu erfüllen, damit er später ein würdiger Lehrer der Suchenden sein kann.

15. Und je mehr er die Lehre erfasst, umso mehr muss er ihr entsprechen, damit es keinen Unterschied zwischen dem gibt, was er spricht und dem was er tut.

16. Eine Frau kann nicht im nötigen Maß ein Schüler sein, denn das weibliche Wesen nimmt seinen Anfang von der Natur.

17. Das blühende weibliche Prinzip benötigt immer eine auf sich bezogene erhöhte Aufmerksamkeit.

18. Aufgrund dessen sind den Frauen manche Handlungen wesenseigen, die der Lehre widersprechen - eine Art zulässige Schwäche, welche nicht zu vermeiden ist.

19. Alle aber können Anhänger sein. Ein Anhänger ist jener, der bestrebt ist, die Gebote einzuhalten, die von Gott gegeben worden sind und alle seine Kräfte demütig für das Werk zum Wohle der umgebenden Welt herzugeben."


20. Am Abend empfing Doktor Bersche die Gäste. Es hatten sich Pädagogen und Eltern begabter spanischer Kinder versammelt, die in einer Spezialschule in Irland unterrichtet wurden.

21. Anfangs war Vissarion nicht an der Versammlung beteiligt, auf der ein bekannter, erfahrener irischer Pädagoge auftrat.

22. Dann aber hörten alle dem Menschensohn zu. Und sie zeigten ein ungeteiltes Interesse und stellten Fragen sowohl zur Kindererziehung als auch über das Wesen des Menschen.

23. Und die einen unterhielten sich mit dem Sohn Gottes wie mit einem ungewöhnlichen, interessanten Gesprächspartner, andere aber fühlten in Ihm die lichte Kraft und erörterten Seine Antworten nicht, sondern versuchten, zu verstehen.

24. Am Ende des Abends, als um Vissarion jene verblieben waren, die am meisten das von Ihm Gesagte angenommen hatten, fragte Anna-Maria, die Sekretärin von Doktor Bersche: "Handeln wir richtig, wenn wir begabte Kinder absondern?"

25. "Kann man denn Kinder in begabte und unbegabte teilen?! Alle Kinder sind begabt.

26. Doch sie benötigen die individuelle Zuwendung eines Meisters des Handwerks, dem sie folgen können, um die Fähigkeiten ihrer Hände zu entwickeln", antwortete Vissarion.

27. Doktor Bersche schlug vor, ein Treffen mit seinen Studenten im Institut für Psychologie zu organisieren, denen er vorher die Broschüre mit dem Wort von Vissarion geben wollte, damit sie sich ernsthafter auf die Begegnung vorbereiten könnten.

28. Falls diese Bücher die Studenten interessierten, sollten sie sie behalten können - so verständigten sich Doktor Bersche und die Reisenden.


29. Am kommenden Tag machten sich Wladimir und Vadim auf zum Institut der russischen Sprache und Literatur, in dessen Lehrklassen Wladimir und Carmen unterrichteten. Sie verwalteten auch den Haushalt des kleinen Instituts.

30. Wladimir erklärte sich mit allem einverstanden, was die Schüler erzählten. Er nickte einverstanden mit dem Kopf über den Beginn der Zeit des Jüngsten Gerichts und darüber, dass die Erde müde geworden sei und beginnen würde, sich zu verteidigen. Er kopierte für sich eine Videokassette.

31. Doch sein Herz strebte nicht der Wahrheit entgegen, Die ganz in der Nähe war. Denn die materielle Bestie, das sich unter den Problemen des Lebensnotwendigen versteckte, das die Menschen in Geschäftigkeit und Unruhe über den morgigen Tag trieb, warf die Menschen in den Sumpf des Unglaubens und des Vergessens Ihres Wesens.


32. Zum Abend hin schritt der Menschensohn durch das wunderbare Barcelona.

33. In der Kathedrale war gerade ein Gottesdienst zu Ende gegangen und es brannten noch feierlich Kerzen.

34. Und der Menschensohn betrachtete aufmerksam die Werke menschlicher Hände, die die innere Ausstattung dieses Tempels geschaffen hatten.

35. Doch Er zog die Augenbrauen zusammen und ging, den Kopf gesenkt, schnell an dem lebensgroßen Kruzifix vorbei, einer Skulptur mit grellen Farben, die die Leiden des Gottessohnes abbildete.

36. In die Handgelenke und die Füße der hölzernen Skulptur waren Eisennägel geschlagen, und Blut rann aus den unheilbaren Wunden.

37. Und traurig war das Antlitz des lebenden Christus, denn seit Jahrhunderten verneigten sich die Menschen vor dem blutigen, tragischen Ereignis, angefüllt mit Leid und Schmerz.

38. Und jeden Tag erfüllt irgendjemand die Laune der verirrten Menschheit und vollzieht die Hinrichtung am Kreuz, indem er Nägel in den Körper einschlägt, der in Stein oder Holz nachgebildet worden ist, und schlägt so die Wahrheit erneut ans Kreuz.

39. Haben denn die Menschen das Wesen der großen Vollziehung vergessen, haben sie vergessen, dass der Menschensohn gekommen ist und mit Seinem Leben die Liebe erfüllt hat, die von Gott geboten wurde und Seine menschlichen Brüder zur Mitwirkung aufgerufen hat ... ?


40. Der neue Tag brachte nicht das angekündigte Treffen mit den Studenten und Pädagogen des psychologischen Instituts, denn an diesem Tag streikten die Studenten und das Institut war geschlossen.

41. Wladimir, Vadim und Maria sprachen sich vorher ab und gingen dann ins russische Konsulat zu einem Treffen mit dem Generalkonsul.

42. Und der Konsul hörte den Ankömmlingen aufmerksam zu und war ein interessanter Gesprächspartner, denn er verstand sehr wohl (und unterstrich das mit seinen Worten), dass die moderne Zivilisation und das moderne Lebenssystem, ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hatten und dass Agonie und Zerfall bevorstanden;

43. Dass weder Europa noch Amerika der Welt prinzipiell neue gesellschaftliche Verhältnisse bieten können, denn dafür müsste es eine ganz andere Denkweise geben, die nicht von der Technokratie und der Anwendung von Gewalt geprägt ist;

44. Und dass einzig Russland, das noch nicht ganz verdorben von der Krankheit der Welt ist, fähig sei, der Menschheit ein neues Leben zu geben.


45. Als der Konsul aber erfuhr, dass in Sibirien eine riesige Gemeinschaft auf der Grundlage des vom Lehrer offenbarten Letzten Testaments entstehe, fragte er mit einem Lächeln: "Und nehmt ihr dort Konsuln auf? Denn es ist absolut möglich, dass dort gerade jenes geboren wird, das berufen ist, die Welt zu retten!"

46. Er nahm von den Schülern Bücher und Zeitschriften und die wichtigsten Adressen entgegen. Man verabredete, nach einer Woche anzurufen, vorerst aber wollte er sich damit beschäftigen, ein mögliches Treffen zu organisieren.

47. Sie trennten sich mit echter Freude über die Begegnung und mit dem Wunsch, für das Wohl der Welt tätig zu sein.