Buch der Aufrufe

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 Kapitel 12 

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Inhalt: Ihr seid geschaffen nach dem Abbild und Ebenbild des Schöpfers ~ Die Anfänge des künstlerischen Schaffens ~ Unterschiedliche Wege des Schöpfertums ~ Zwei entgegengesetzte Pole des künstlerischen Schaffens ~ Fallstricke auf beiden Wegen ~ Die meisterhafte Verschmelzung beider Pole ~ Die Türen des Tempels der Schöpfung müssen offen stehen

       Ihr seid geschaffen nach dem Abbild und Ebenbild des Vaters

1. Der Himmlische Vater hat Seine Kinder nach Seinem Abbild und nach Seinem Ebenbild geschaffen.

2. Das Abbild ist die eine Wahrheit, das Ebenbild - hat eine andere tiefe Bedeutung.

3. Der Große Vater hat Seinen Kindern geboten, Ihm gleich zu sein - Schöpfer von Liebe und Schönheit.

4. Und zaghaft betraten die Kinder in Reih und Glied eine Ecke der erstaunlichen Welt, die von der Ewigkeit geschaffen worden war. Sanft umhüllte der Strom der Zeit die ersten Seelen und zog sie sicher in die Unendlichkeit.

5. Wie großartig ist das Wunder der Schönheit!

6. Ein Ozean verschiedenfarbiger Blütenblätter plätschert mit zärtlichem Rauschen uferlos ...

       Die Anfänge des künstlerischen Schaffens

7. Doch einmal erschien eine Linie unter der einen Hand, unter der anderen schwang sich ein Ton heraus, irgendwo floss ein wunderbares Wort von Lippen ...

8. Ein Regenbogen leuchtete über den Köpfen der kleinen Wanderer auf.

9. Doch das Rauschen wurde stärker ...

10. Seitdem haben die Kinder bei der Suche nach ihrer Reife viele Schuhe zerrissen auf den Wegen der Zeit.

11. Linien und Noten überqueren die Oberfläche zielstrebig. Aber die Tiefen? ...

       Unterschiedliche Wege des Schöpfertums

12. Auf der einen Seite geht man beim künstlerischen Schaffen rein technisch an das Werk heran.

13. So ein Schöpfer ist bedacht, das ihn umgebende Dasein mit Hilfe seiner Hände auf das Genaueste wiederzugeben.

14. Und das Märchenhafte piepst jämmerlich unter dem sicheren Schritt.

15. Auf der anderen Seite haben wir jenen Schöpfer, dessen Hauptsorge das Bestreben ist, die persönlichen Erlebnisse und Empfindungen darzustellen, die auf ihn durch die Einwirkung der Umwelt einstürzen.

16. Die Meisterschaft der Ausführung verhüllte sich im Nebel der Verzweiflung. Die Breite der Szene wurde mit Originalität angefüllt, die in den meisten Fällen nicht in der Lage war, den Stempel der Erkenntnis zu tragen.

17. Das gewaltige Wunder des Daseins verschwindet beim Näherkommen wie eine Fata Morgana.

       Zwei entgegengesetzte Pole des künstlerischen Schaffens

18. Zwei Seiten der Schöpfung - wie zwei Pole:

19. Im ersten Fall versteht der Betrachter klar das Dargestellte und - sollte es Bewunderung hervorrufen - so gewöhnlich nur wegen der erstaunlichen äußeren Ähnlichkeit;

20. Im anderen Fall versteht der Betrachter das Dargestellte wenig oder gar nicht, kann jedoch die unwahrscheinliche Originalität bewundern.

21. Beide Seiten sind kleine Tropfen eines gewaltigen Flusses.

22. Sie stellen sein Wesen dar, aber sie verändern seine Strömung nicht.

23. Zwei entgegengesetzte Pole der Schöpfung ...

       Fallstricke auf beiden Wegen

24. Auf dem einen Pol wachsen die technischen Feinheiten, während das Kunstschaffen vereist ist und in kleine Schneeflocken zerfiel.

25. Auf dem anderen Pol wehen böige schöpferische Winde, doch anstelle von Ideen fällt vom Himmelsgewölbe nur das flimmernde Licht des Selbstausdrucks.

26. Ähnlich vielen Kindern, die in Abhängigkeit von der einen oder anderen Laune eine bis dahin unbekannte Melodie vor sich hin singen:

27. Diese Kinder mögen die Gesetze der Harmonie der Klänge nicht kennen, doch sie würden auch dann nicht anders singen, denn mittels der Klänge blüht der Selbstausdruck der Gefühle auf.

28. So eine Melodie ist nur dazu bestimmt, der Seele des Autors Befriedigung zu verschaffen,

29. Und gefiele sie noch jemandem, so nur dank der Resonanz der Tonwelle mit dem Erleben des Zuhörers.

       Die meisterhafte Verschmelzung beider Pole

30. Doch es gibt im Fluss eine mächtige Strömung, die die Richtung wenden kann.

31. Ihr Wesen besteht im meisterhaften Verschmelzen beider Pole.

32. So ein Schöpfer schafft ein Werk, das der Betrachter nicht nur sehen und fühlen kann, sondern wobei ihm, indem er es versteht, Flügel wachsen.

33. Diese mächtige Wurzel muss Erzieher der Eigenschaften sein, die zum wahren Sammeln geistiger Reichtümer verhelfen.

       Die Türen des Tempels der Schöpfung müssen offen stehen

34. Der Schöpfer der Schönheit muss verstehen, dass ein Kunstwerk keine Speise ist, die man jedem zum Kosten vorsetzt, sondern ein Tempel mit offenen Türen.

35. Die Tür erlaubt es jedem, in die geistige Welt des Künstlers einzudringen.

36. Jener, der die Schönheit in geringerem Grade empfindet, kann sich in einem anderen Tempel mit mehr anreichern.

37. Nur die Tür darf man nicht schließen, denn dann wird der Tempel niemandem zugänglich sein, und deine Schöpfungen bleiben unverstanden.

38. Und man braucht keinen Tempel aufgrund menschlicher Bedürfnisse zu bauen, denn wegen ihrer Unbeständigkeit wird so ein Tempel nach einiger Zeit vergessen und niemandem nützlich sein;

39. Ein Spinngewebe wird den Raum versperren.

40. So seid denn würdige Schöpfer des bewundernswerten Lichtes, das euch vom Großen Vater gegeben wurde! Friede sei mit euch.

Amen.